BVG21: Eine obso­le­te Revision

Es ist absurd: Am 22. Sep­tem­ber stim­men wir mit dem BVG21 über eine Vor­la­ge ab, deren Haupt­ar­gu­ment hin­fäl­lig gewor­den ist. Aus­gangs­punkt für die Revi­si­on war näm­lich eine histo­risch ein­ma­li­ge ertrags­ar­me Nega­tiv­zins­pha­se in den letz­ten Jah­ren. Doch seit der Zins­wen­de geht es den Pen­si­ons­kas­sen wie­der bestens. Daher braucht es kei­nen unso­zia­len Ren­ten­ab­bau, son­dern Rentenerhöhungen. 

Bern, Juni 2024. Die Nach­wir­kun­gen der Finanz­kri­se 2008 sowie ins­be­son­de­re die Nega­tiv­zin­sen von 2014 bis 2022 stell­ten die Pen­si­ons­kas­sen vor die Her­aus­for­de­rung, in einem schwie­ri­gen Umfeld aus­rei­chen­de Ren­di­ten zu erzie­len. Nicht allen gelang dies. Vie­le Kas­sen gerie­ten in Schief­la­ge, grif­fen zur soge­nann­ten kal­ku­la­to­ri­schen Umver­tei­lung und ver­la­ger­ten Mit­tel von den Akti­ven zu den Pen­sio­nier­ten. Dar­um stand das Pro­blem der Nega­tiv­zin­sen am Anfang der Reform der beruf­li­chen Vor­sor­ge (BVG21) und war das Haupt­ar­gu­ment für die Revi­si­on, dies nebst der längst fäl­li­gen Bes­ser­stel­lung der Frau­en im BVG.

 «Zins­wen­de ret­tet Situation»

Heu­te, zwei Jah­re nach der Zins­wen­de, spie­len Nega­tiv­zin­se aller­dings kei­ne Rol­le mehr. Wäh­rend 2017 laut der BVG-Ober­auf­sicht (OAK) noch 6,6 Mil­li­ar­den Fran­ken von jung zu alt umver­teilt wur­den, waren es 2021 nur noch 0,2 Mil­li­ar­den. Und seit 2022 ist es sogar umge­kehrt: Dank des hohen Spar­ka­pi­tals der über 50-Jäh­ri­gen wer­den mehr Zins­er­trä­ge als nötig erwirt­schaf­tet. Die­se kom­men allen Alters­grup­pen und damit auch den akti­ven Ver­si­cher­ten zugute.

Ver­falls­da­tum abgelaufen

Zudem atte­stiert die OAK den Pen­si­ons­kas­sen eine sehr gute finan­zi­el­le Lage. Sie sind mit 1‘300 Mil­li­ar­den Kapi­tal sta­bil auf­ge­stellt und haben beträcht­li­che Reser­ven zur Bewäl­ti­gung künf­ti­ger Finanz­markt-Tur­bu­len­zen und der stei­gen­den Lebens­er­war­tung ange­häuft.  «Die Zins­wen­de nach der histo­risch ein­ma­li­gen Nega­tiv­zins­pha­se hat die Situa­ti­on geret­tet», schreibt SP-Wirt­schafts­exper­te Rudolf Strahm auf sei­ner Web­sei­te. Fazit: Wir stim­men über eine Revi­si­on ab, deren Ver­falls­da­tum bereits abge­lau­fen ist.

Teu­er und falsch

Damit steht das BVG21 völ­lig quer in der Land­schaft. Denn bei der Revi­si­on han­delt es sich um eine rei­ne Abbau­vor­la­ge. Das gilt vor allem für das Kern­stück der Revi­si­on: die Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes von 6,8 auf 6,0 Pro­zent. Damit soll es auf 100‘000 Fran­ken Alters­gut­ha­ben nur noch 6000 statt 6800 Fran­ken Ren­te geben. Das bedeu­tet laut Gewerk­schafts­bund (SGB) eine Kür­zung von 12 Pro­zent – und dies bei rand­vol­len Kassen.

Gleich­zei­tig stei­gen die Lohn­ab­zü­ge um bis zu 11 Pro­zent. Denn die BVG-Revi­si­on sieht eine Aus­wei­tung des Obli­ga­to­ri­ums auf Nied­rig­ver­die­nen­de vor. Das ist sozi­al­po­li­tisch höchst sinn­voll, erhöht aber den bei­trags­pflich­ti­gen Lohn­an­teil. Damit flie­ssen den Kas­sen zusätz­li­che Erträ­ge zu, die sie gar nicht brauchen.

Was die bür­ger­li­chen bis rech­ten Par­tei­en von GLP bis SVP als Sanie­rung der Pen­si­ons­kas­se bezeich­nen, ist ein flä­chen­decken­der Ren­ten­ab­bau. Die Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes bedeu­tet im Schnitt eine Ren­ten­kür­zung von zwölf Pro­zent, die Aus­wei­tung des ren­ten­bil­den­den Lohn­teils eine Lohn­kür­zung von teils bis zum elf Pro­zent. (Tabel­le: UNIA)

Älte­re Nor­mal­ver­die­nen­de abgestraft

Die nega­ti­ven Fol­gen für einen erheb­li­chen Teil der Ver­si­cher­ten sind mas­siv. Laut SGB kön­nen die Ren­ten im obli­ga­to­ri­schen Bereich im Ein­zel­fall bis zu 15 Pro­zent oder um 270 Fran­ken pro Monat sin­ken. Zu den Leid­tra­gen­den gehö­ren vor allem die 50- bis 65-jäh­ri­gen mit Löh­nen über 50‘000 Fran­ken. Vie­le von ihnen müs­sen mit tie­fe­ren BVG-Ren­ten rech­nen. Dar­an ändern auch die geplan­ten Ren­ten­zu­schlä­ge für die 15 Neur­ent­ner-Jahr­gän­ge wenig. Die­se sind gering und nur für sehr tie­fe Ren­ten gedacht. Nur ein Vier­tel erhält den vol­len Zuschlag von 200 Fran­ken pro Monat, ein wei­te­rer Vier­tel einen Teil­zu­schlag mit ein paar Fran­ken. Und die ande­re Hälf­te bekommt gar nichts.

Das BVG21 sieht nur Ren­ten­zu­schlä­ge für die aller­tief­sten Ein­kom­men vor. Das Pro­blem dabei: Die Mit­tel­schicht mit nor­ma­len Löh­nen geht zum gröss­ten Teil leer aus. Sie trifft der BVG-Abbau am stärksten.

Noch höhe­re Ren­ten­kür­zun­gen tref­fen jene, die knapp nicht mehr zur Über­gangs­ge­nera­ti­on gehö­ren und Monats­löh­ne über 4500 Fran­ken ver­die­nen. Vie­le wer­den zu wenig Zeit haben, genug anzu­spa­ren, um eine Ren­ten­ein­bu­sse zu ver­hin­dern. Aber auch für jun­ge Men­schen mit einem mitt­le­ren Ein­kom­men ist die Revi­si­on viel­fach ein Ver­lust­ge­schäft: Obwohl sie noch den Spar­pro­zess vor sich haben, wer­den es vie­le nicht schaf­fen, auf das heu­ti­ge Ren­ten­ni­veau zu kommen.

Die BVG-Revi­si­on bestraft vor allem Men­schen mit nor­ma­len Löh­nen, die 15 bis 20 Jah­ren vor der Pen­sio­nie­rung ste­hen. Die mei­sten erhal­ten kei­ne Ren­ten­zu­schlä­ge und müs­sen zum Teil mit hap­pi­gen Ren­ten­kür­zun­gen rechnen.

Beschei­de­ne Besserstellung

Gleich­zei­tig sind die Ver­bes­se­run­gen für Nied­rig­ver­die­nen­de, Teil­zeit-Arbei­ten­de und für Per­so­nen mit Berufs­un­ter­brü­chen, wozu vor allem Frau­en gehö­ren, eher beschei­den. Mit der Sen­kung von Ein­tritts­schwel­le und Koor­di­na­ti­ons­ab­zug erhal­ten zwar neu rund 70‘000 Per­so­nen Zugang zum BVG-Obli­ga­to­ri­um und wei­te­re 30‘000 Per­so­nen etwas höhe­re Ren­ten. Doch gibt es ein gro­sses Aber: Vie­le Men­schen im Tief­lohn­sek­tor ver­die­nen so wenig, dass sie im Alter gleich­wohl Ergän­zungs­lei­stun­gen benö­ti­gen. Sie müs­sen wäh­rend des Erwerbs­le­bens neu Bei­trä­ge an die Pen­si­ons­kas­se lei­sten, ohne dass sich damit ihre finan­zi­el­le Situa­ti­on im Alter verbessert. 

Anhäu­fung unnö­ti­ger Reserven

Letzt­lich läuft das von der bür­ger­li­chen Par­la­ments­mehr­heit in Eigen­re­gie erar­bei­te­te und inzwi­schen über­hol­te BVG21 dar­auf hin­aus, dass die Kas­sen auf Kosten eines beträcht­li­chen Teils der Mit­tel­schicht unö­ti­ger­wei­se viel zu hohe Reser­ven anhäu­fen, ohne dass die Pen­si­ons­kas­sen-Abdeckung für Nied­rig­ver­die­nen­de viel mehr dar­stellt als ein abso­lu­tes Mini­mum. Die Kas­sen schwim­men im Geld, wäh­rend die Ver­si­cher­ten immer weni­ger Ren­te haben. Das ist alles ande­re als muster­gül­ti­ge Gesetzesarbeit.

Blind für Systemmängel

Kommt hin­zu, dass die bür­ger­li­chen Mehr­heits­par­tei­en die ech­ten Pro­ble­me der beruf­li­chen Vor­sor­ge kon­se­quent aus­blen­den. Dazu gehören:

Ren­ten­ent­wick­lung: In den letz­ten 15 Jah­ren erhöh­ten sich die Lohn­bei­trä­ge im Obli­ga­to­ri­um um 14 Pro­zent, wäh­rend gleich­zei­tig die Ren­ten im Schnitt um 300 Fran­ken monat­lich san­ken. Die BVG-Ren­ten haben damit erheb­lich an Kauf­kraft verloren.

Seit Jah­ren stei­gen die Lohn­bei­trä­ge für die Pen­si­ons­kas­se, wäh­rend gleich­zei­tig die Ren­ten sin­ken. Das BVG21 bringt kei­ne Trend­wen­de, son­dern ver­schärft die­se Ten­denz für einen erheb­li­chen Teil der Ver­si­cher­ten und ins­be­son­de­re für die Mittelklasse. 

Ver­mö­gens­ver­wal­tung Die Kosten dafür stei­gen seit Jah­ren und betra­gen heu­te laut OAK 8,2 Mil­li­ar­den oder 0,62 Pro­zent der Anla­ge­sum­me.  «Das ist für Insti­tu­tio­nel­le viel zu hoch», schreibt Strahm und kri­ti­siert zu Recht, dass die Finanz­bran­che mit Ban­ken, Ver­mö­gens­ver­wal­tern und Hedge­fonds fast jeden fünf­ten Fran­ken der aus­be­zahl­ten Ren­ten- und Kapi­tal­sum­me der Zwei­ten Säu­le für sich abzweigt.

Teue­rung: Da ein obli­ga­to­ri­scher Teue­rungs­aus­gleich fehlt, haben laut SGB nur 14 Pro­zent der Kas­sen 2024 die Ren­ten an die Infla­ti­on ange­passt. Damit fin­det ins­be­son­de­re seit 2022 eine schlei­chen­de Ent­wer­tung der Ren­ten statt.

60%-Vorgabe: Die Vor­ga­be in der Alters­vor­sor­ge, wonach die Gesamt­ren­te 60 Pro­zent des Ein­kom­mens betra­gen muss, funk­tio­niert nur bei hohen Löh­nen. Bei Löh­nen unter 80‘000 Fran­ken sind die Pen­si­ons­kas­sen-Ren­ten oft zu nied­rig, um den gewohn­ten Lebens­stan­dard zu halten.

Nein: Ein Akt der Vernunft

Ein Nein zum BVG21 braucht es daher nicht nur, um eine Revi­si­on zu stop­pen, die hin­fäl­lig ist und in die fal­sche Rich­tung geht, son­dern auch, um eine neue Revi­si­on ein­zu­lei­ten, wel­che bes­se­re Ren­ten anstrebt und die Män­gel im System besei­tigt. Ein Nein ist damit gleich­sam ein Akt der Vernunft.

Autor: Wal­ter Lan­gen­eg­ger
Illu­stra­ti­on: Trans­pa­rent an der Kund­ge­bung der Senior:innen-Verbände vom 25. Sep­tem­ber 2023 in Bern

Anmer­kun­gen:

Die Anga­ben zur kal­ku­la­to­ri­schen Umver­tei­lung basie­ren auf den jüng­sten Bericht der OAK (https://www.oak-bv.admin.ch/inhalte/Themen/Erhebung_finanzielle_Lage/2023/Bericht_zur_finanziellen_Lage_der_Vorsorgeeinrichtungen_2023.pdf) sowie auf einem Text von Rudolf Strahm (https://www.rudolfstrahm.ch/2024-ist-ein-schlusseljahr-fur-die-altersvorsorge-fokus-zweite-saule/)

Die­ser Text ist eine Fort­set­zung und Aktua­li­sie­rung des im Okto­bers 2023 publi­zier­ten Arti­kels „BVG21: Unso­zia­ler Pfusch“ (https://wlangenegger.ch/bvg21-unsozialer-pfusch/)

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