Voraussichtlich im Sommer 2024 werden wir in einer Referendumsabstimmung über die Reform zur Beruflichen Vorsorge (BVG21) befinden. Die von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit in Eigenregie verabschiedete Vorlage ist ein unsozialer Pfusch. Sie führt dazu, dass die Arbeitnehmenden auf breiter Front mehr in die Zweite Säule einzahlen müssen, im Alter aber trotzdem weniger Rente erhalten. Hier in einer dritten und letzten Folge zur Altersvorsorge die Gründe für ein Nein zum BVG21.
Oktober 2023. Als die Berufliche Vorsorge (BVG) 1985 eingeführt wurde, galt sie als Zaubermittel gegen alle Finanzprobleme in der Altersvorsorge. Dank des kapitalbasierten Sparens– so das damalige Versprechen – werde der Alterung der Gesellschaft ein Schnippchen geschlagen und der angeblich kränkelnden AHV eine starke zweite Säule zur Seite gestellt. Heute wissen wir es besser: Nicht die AHV ist das Problem, sondern das BVG. Obwohl inzwischen über 1100 Milliarden Franken angespart worden sind, ist das hochkomplexe System der Zweiten Säule in Schieflage geraten.
Ein Hauptgrund dafür ist, dass die Kapitalmärkte nicht gehalten haben, was sie einst versprachen. Volatile Aktienbörsen und jahrelange Tiefzinsphasen schmälerten die Kapitalerträge der Pensionskassen (PK). Zudem erwiesen sich das Verwalten und Anlegen des Kapitals als überaus teuer. Das gilt vor allem für die Sammelstiftungen. Diese kontrollieren heute nicht nur einen erheblichen Teil des BVG-Kapitals, sondern verrechnen den Versicherten enorm hohe Kosten. Der Bund geht davon aus, dass jährlich über sieben Milliarden an Finanzindustrie und Makler abfliessen; Kenner der Materie reden sogar von 20 Milliarden.
PK-Renten im Sinkflug
Die ungenügenden Renditen, die hohen Verwaltungskosten sowie die Tatsache, dass nun auch die geburtenstarke Babyboomer-Generation in Rente geht, zwingen die Pensionskassen dazu, zur Deckung der laufenden Renten das Sparkapital anzuzapfen, BVG-Beiträge zu erhöhen und Rentenleistungen zu kürzen. Darum sind die PK-Renten im Sinkflug. Seit 2015 wurden sie um 8,5 Prozent gekürzt, während sich die BVG-Beiträge in den letzten zehn Jahren um zehn Prozent erhöht haben.
Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
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Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
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Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
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Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
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Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
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Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html
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Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
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Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
Grafik
Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
Grafik
Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
Grafik
Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
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Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html
Vor diesem Hintergrund einigten sich die Sozialpartner Ende 2017 auf einen Kompromiss zur Sanierung der Zweiten Säule. Im Wesentlichen umfasste dieser eine Rentenkürzung im obligatorischen BVG-Teil durch die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent sowie eine Beitragserhöhung durch die Halbierung des Koordinationsabzugs bzw. die Ausweitung des rentenbildenden Lohnbestandteils (siehe: https://www.sgb.ch/aktuell/bvg-21).
Sozialpartner für Fairness
Da diese Massnahmen vor allem für die ersten 15 Neurenten-Jahrgänge beträchtliche Einbussen zur Folge gehabt hätten, schlugen die Sozialpartner für diese Alterskategorie einen garantierten Rentenzuschlag vor, der mit einem neuen Element hätte finanziert werden sollen: einem Zuschlag von 0,5% auf alle AHV-pflichtigen Löhne bis maximal 850‘000 Franken, organisiert nach dem Vorbild des AHV-Umlageverfahrens. Damit wären den Hauptbetroffenen weniger Leistungsverluste entstanden. Zudem hätte dies erlaubt, im unteren Lohnsegment die Frauenrenten aufzubessern.
Der solidarisch finanzierte Rentenzuschlag war fast schon revolutionär. Denn das BVG ist kein Sozialwerk, sondern nur eine staatlich obligatorisch erklärte private Rentenversicherung. Alle Erwerbstätigen sparen nur für sich. Wer einen kleinen Lohn hat, hat eine schlechte Rente, wer viel verdient, eine gute. Eine soziale Umverteilung findet nicht statt. Mit dem garantierten Rentenzuschlag wäre somit erstmals ein kleiner Ausgleich zwischen normalen und hohen Einkommen eingebaut worden.
Abbau mit Feigenblatt
Genau diesen sozialen Rentenzuschlag aber brach das bürgerlich dominierte Parlament aus dem Paket heraus, übernahm die Reduktion des Umwandlungssatzes sowie in abgeänderter Form die Elemente zur Erhöhung der BVG-Abzüge und bastelte daraus eine reine Abbauvorlage. Daran ändern auch die Senkung der BVG-Eintrittsschwelle von 22‘050 Franken auf 19‘845 Franken und der Rentenzuschlag für die Übergangsgeneration nichts: Sie stellen keine soziale Abfederung dar, sondern sind bestenfalls ein Feigenblatt.
Der Grund dafür ist, dass mit der niedrigeren Eintrittsschwelle zwar etwa 100‘000 Arbeitnehmende mit Tiefstlöhnen, darunter vorab Frauen, besseren Zugang zum BVG erhalten. Aber weil viele von ihnen so wenig verdienen, dass sie im Alter ohnehin Ergänzungsleistungen (EL) brauchen, haben sie nichts davon – und dies, obwohl sie neu Lohnabzüge leisten. Ähnlich verhält es sich mit den Rentenzuschlägen: Diese schützen zwar die sehr tiefen Renten bis 1000 Franken, doch bringt dies wenig, weil viele in dieser Kategorie eine Rente haben werden, die die EL-Grenze nicht übersteigt. Die angebliche Abfederung entpuppt sich damit eher als eine Entlastung für die EL als eine Besserstellung der Menschen mit Tiefstlöhnen.
Sparen bei Mittelklasse
Erst recht nicht auf geht die Rechnung für einen Grossteil der 5,3 Millionen Erwerbstätigen. Die Rentenzuschläge für die Übergangsgenerationen sind derart gering und limitiert, dass die Rentenverluste bei weitem nicht kompensiert werden. Berechnungen der Arbeitnehmerorganisationen zeigen, dass mit der Reduktion des Umwandlungssatzes eine generelle Rentenkürzung von zwölf Prozent stattfindet. Zudem bewirken die Massnahmen bei Eintrittsschwelle und Koordinationsabzug Lohnkürzungen von acht Prozent. Das trifft insbesondere die Mittelklasse mit durchschnittlichen Löhnen. Sie entrichtet mit dem BVG21 bedeutend mehr Lohnabzüge und muss gleichzeitig tiefere Renten in Kauf nehmen.
Frauen am stärksten betroffen
Laut dem Gewerkschaftsbund SGB können die Renten im Einzelfall bis zu 15 Prozent oder um 270 Franken pro Monat sinken. Am höchsten sind die Verluste für jene, die knapp nicht mehr in der Übergangsgeneration sind. In dieser Alterskategorie sind alle Einkommen von über 4500 Franken von tieferen Renten betroffen. Das sind grob geschätzt rund die Hälfte der Frauen und Dreiviertel aller Männer. Selbst für die Jungen mit einem mittleren Einkommen ist die Revision ein Verlustgeschäft: Obwohl sie noch den Sparprozess vor sich haben, werden sie es kaum schaffen, auf das Niveau einer heutigen Rente zu kommen. Was das BVG21 für die einzelnen Lohngruppen bedeuten kann, zeigt folgende Tabelle:
Systemmängel ausgeklammert
Hinzu kommt, dass die gravierenden Systemmängel der Zweiten Säule mit dem BVG21 nicht behoben werden. Nach wie vor ist es für Personen mit Einkommen unter 80‘000 Franken schwierig, sich eine BVG-Rente zu erarbeiten, die die Weiterführung der gewohnten Lebenshaltung nach der Pensionierung ermöglicht. Unerfüllt bleibt auch das Versprechen, das den Frauen mit der AHV21 abgegeben wurde: nämlich rasch Massnahmen zu ergreifen, um deren Situation im BVG zu verbessern. Und erst recht nichts unternommen wird dagegen, dass Banken und Versicherungen weiterhin mit einem intransparenten Gebührensystem Milliarden abzweigen und satte Gewinne erzielen.
Reform zur falschen Zeit
Zweifel an der Reform sind inzwischen auch angebracht, weil die Zinsen wieder deutlich ansteigen. Damit fällt das Hauptargument für die Revision weg. Denn mit der Zinswende verbessern sich die Deckungsgrade der Pensionskassen und es können wieder Reserven geäufnet werden. Welchen Sinn also macht es, auf Vorrat die Versicherten zu belasten?
Notbremse ziehen
Das alles spricht für das Referendum und dafür, die Notbremse zu ziehen und die misslungene BVG-Revision wuchtig zu verwerfen. Dies gilt umso mehr, als ein Nein die Chance eröffnete, auf den Sozialpartner-Kompromiss zurückzukommen und eine Reform aufzugleisen, welche das neue Umfeld mit Zinswende, Teuerung und Kaufkraftverlust mitberücksichtigt sowie eine gezielte Besserstellung der Frauen und den Einbau von etwas Solidarität vorsieht.
Autor: Walter Langenegger
Titelbild: Gewerkschaft UNIA
Weitere Beiträge zum Thema Altersvorsorge:
- AHV: Verkappte Verkoppelung, Oktober 2023: https://wlangenegger.ch/verkappte-koppelung/
- Mehr AHV-Rente für alle, Oktober 2023: https://wlangenegger.ch/mehr-ahv-rente-fuer-alle/
- Es lebe die Giesskanne, Februar 2022: https://wlangenegger.ch/es-lebe-die-giesskanne/
- AHV-Fehlentscheid mit Folgen, September 2022: https://wlangenegger.ch/ahv-fehlentscheid-mit-folgen/
- Hütet euch vor Kopfsteuern, August 2022: https://wlangenegger.ch/huetet-euch-vor-kopfsteuern/
- Die Mär von der Demografie, Juni 2022: https://wlangenegger.ch/die-maer-von-der-demografie/
- Sparen bei der AHV ist falsch: https://wlangenegger.ch/sparen-bei-der-ahv-ist-falsch/