Wir soll­ten den Staat stärken

Eigent­lich ist der moder­ne demo­kra­ti­sche sozia­le Rechts- und Dienst­lei­stungs­staat eine Errun­gen­schaft, auf die wir alle stolz sein müss­ten. Denn er garan­tiert Frei­heit, Bür­ger­rech­te, Bil­dung und die Chan­ce auf ein selbst­be­stimm­tes Leben. Trotz­dem begeg­nen ihm Poli­tik und Öffent­lich­keit per­ma­nent mit Kri­tik, Miss­trau­en und Ableh­nung. Woher kommt das? Und ist die­ser Gene­ral­ver­dacht gegen unse­ren Staat gerechtfertigt?

August 2022. Der moder­ne Staat steht nun­mehr seit 40 Jah­ren poli­tisch unter Druck. Am Anfang die­ser Ent­wick­lung stan­den die bri­ti­sche Pre­mier­mi­ni­ste­rin Mar­ga­ret That­cher und der US-Prä­si­den­ten Ronald Rea­gan. Für sie gab es nichts Schlim­me­res als das Kon­strukt Staat. Sie dif­fa­mier­ten ihn als inef­fi­zi­ent, teu­er und frei­heits­feind­lich, began­nen wäh­rend ihrer Regie­rungs­jah­re mit des­sen Demon­ta­ge und schaff­ten es, welt­weit eine Ideo­lo­gie des Staats­ab­baus und des Markt­fun­da­men­ta­lis­mus zu implementieren.

Die Wur­zeln dafür lie­gen in der öko­no­mi­schen Ent­wick­lung der ver­gan­ge­nen 70 Jah­re. Als nach dem Zwei­ten Welt­krieg der Wie­der­auf­bau West­eu­ro­pas orga­ni­siert wer­den muss­te, war nur eine Instanz dazu fähig: der Staat, demo­kra­tisch dazu legi­ti­miert. Dar­aus ent­wickel­te sich die sozia­le Markt­wirt­schaft mit einem star­ken Sozi­al­staat, mit Staats­be­trie­ben in zen­tra­len Sek­to­ren und einem staat­lich sub­ven­tio­nie­ren Ser­vice public. Das brach­te West­eu­ro­pa Wohl­stand und schuf eine brei­te und sta­bi­le Mittelklasse.

Das Wachs­tum brach­te aber nicht nur Wohl­stand, son­dern auch die Akku­mu­la­ti­on von Kapi­tal. Und so kam der Punkt, an dem sich Ban­ken, Inve­sti­ti­ons­fir­men und Unter­neh­men frag­ten: Wohin damit? Denn vie­le ren­ta­ble Geschäfts­fel­der blie­ben pri­va­ten Inve­sto­ren vor­ent­hal­ten, weil sie staat­lich orga­ni­siert und Teil des Ser­vice public waren. Die Tele­kom­mu­ni­ka­ti­on, der Ver­kehr, die öffent­lich-recht­li­chen Medi­en, das Gesund­heits- und Bil­dungs­we­sen, die Was­ser- und Ener­gie­ver­sor­gung: In all die­sen Berei­chen las­sen sich Gewin­ne erzie­len, wenn man sie privatisiert.

Dies gilt umso mehr, als Inve­sti­tio­nen in staat­li­che Berei­che gute und siche­re Inve­sti­tio­nen sind. Denn hier geht es um die Daseins­vor­sor­ge bzw. die Grund­ver­sor­gung. Die Güter und Dienst­lei­stun­gen des Ser­vice public benö­ti­gen wir alle zwin­gend. Sie sind exi­sten­zi­ell. Wir haben kei­ne Wahl. Wir kön­nen nicht ohne Was­ser, Ener­gie, Gesund­heits­vor­sor­ge und Bil­dung leben. Wir sind davon abhän­gig. Ver­wei­ge­rung ist nicht mög­lich – und die Ren­di­te damit garantiert.

Der ent­kräf­te­te Staat

Und genau dar­um ging es, als in den 80er- und 90er-Jah­ren in vie­len Län­dern die Wirt­schafts­po­li­tik umge­schrie­ben und eine neo­li­be­ra­le Agen­da der Pri­va­ti­sie­rung und Dere­gu­lie­rung lan­ciert wur­de: Es ging und geht bis heu­te dar­um, dass sich Kon­zer­ne, Unter­neh­men, Ban­ken und Inve­sto­ren ein mög­lichst gro­sses Stück Kuchen aus dem lukra­ti­ven öffent­li­chen Sek­tor abschnei­den. Und so wird der Staat seit 40 Jah­ren Schritt für Schritt demon­tiert, geschwächt und ausgehöhlt.

Damit die Men­schen dabei mit­mach­ten, brauch­te es eine Deu­tung, eine Erzäh­lung, oder neu­deutsch ein Nar­ra­tiv. Und damit sind wir wie­der bei That­cher und Rea­gan: Sie und die fol­gen­den Poli­ti­ker­ge­nera­tio­nen lie­fer­ten mit Hil­fe der Finanz­wirt­schaft, der Kon­zer­ne und einem Heer von neo­li­be­ra­len Öko­no­men das nöti­ge Nar­ra­tiv, indem der klas­si­sche Wohl­fahrts­staat als inef­fi­zi­ent, büro­kra­tisch, schwer­fäl­lig und über­teu­ert denun­ziert wur­de – und zwar so lan­ge, bis es alle glaub­ten und sich die­se Ideo­lo­gie tief in die Köp­fe der poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und wis­sen­schaft­li­chen Eli­ten sowie in die inter­na­tio­na­len Regel­wer­ke, Ver­fas­sun­gen, Gesetz­ge­bun­gen und Par­tei­pro­gram­men eingrub.

Trug­bild Neoliberalismus

Dabei braucht es nicht viel, um zu erken­nen, dass der Neo­li­be­ra­lis­mus ein Phan­tom ist. Erstens brin­gen Libe­ra­li­sie­run­gen und Dere­gu­lie­run­gen kei­nes­wegs effi­zi­en­te­re und gün­sti­ge­re öffent­li­che Dienst­lei­stun­gen. Denn pri­vat­wirt­schaft­li­che Unter­neh­men müs­sen zur Befrie­di­gung ihrer Aktio­nä­re immer mög­lichst hohe Gewin­ne erzie­len. Also wer­den zu deren Finan­zie­rung die Löh­ne gesenkt, die Arbeits­be­din­gun­gen ver­schlech­tert und auf Inve­sti­tio­nen ver­zich­tet. Die Kon­su­men­ten haben in einer ersten Pha­se kaum etwas davon, zumal die Prei­se nur gering sin­ken. Und in einer zwei­ten Pha­se zah­len wir alle die Rech­nung dafür – mit höhe­ren Abga­ben oder schlech­te­ren Dienstleistungen.

Zwei­tens ist es falsch zu glau­ben, mit markt­wirt­schaft­li­cher Logik einen Ser­vice public betrei­ben zu kön­nen. Denn im Gegen­satz zur Pri­vat­wirt­schaft ist es nicht Sinn und Zweck des Ser­vice public, Gewin­ne zu erzie­len. Öffent­li­che Dienst­lei­stun­gen die­nen nicht der Bör­se, son­dern dem Wohl­erge­hen der Bevöl­ke­rung. Der Staat betreibt eine defi­zi­tä­re Bus­li­nie, um eine Rand­re­gi­on nicht aus­ster­ben zu las­sen. Er sub­ven­tio­niert einen Kurs für Migran­ten­kin­der, um die Gesell­schaft vor sozia­len Pro­ble­men in 20 Jah­ren zu bewah­ren. Er finan­ziert eine SRG und betreibt Medi­en­för­de­rung, damit eine ver­läss­li­che Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung als Grund­la­ge für eine funk­tio­nie­ren­de Demo­kra­tie gewähr­lei­stet bleibt. Die Ren­di­te ist gleich Null, doch der Wert für die Gesell­schaft unschätz­bar hoch.

Und genau das ist der zen­tra­le Punkt, den der Neo­li­be­ra­lis­mus unter­schlägt: Ein funk­tio­nie­ren­der demo­kra­ti­scher sozia­ler Rechts- und Dienst­lei­stungs­staat ist für die Men­schen von enor­mer Bedeu­tung, weil er ins­be­son­de­re drei zen­tra­le Säu­len unse­rer Gesell­schaft sichert: den Wohl­stand für die brei­te Bevöl­ke­rung, die Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit und die Wahr­neh­mung der Bürgerrechte.

Zunächst zum Wohl­stand: Der Staat bil­det das Fun­da­ment für eine pro­spe­rie­ren­de Wirt­schaft. Er allein ist in der Lage, ein funk­tio­nie­ren­des Bildungs‑, Sozi­al- und Gesund­heits­we­sen und moder­ne Infra­struk­tu­ren für alle zu gewähr­lei­sten und damit erst die Vor­aus­set­zung zu schaf­fen, dass so etwas wie wirt­schaft­li­che Wett­be­werbs­fä­hig­keit rea­li­siert wird. Der Staat ist die Vor­lei­stung für pri­va­te Inve­sti­tio­nen. Je schwä­cher der Staat ist, desto schlech­ter prä­sen­tiert sich die wirt­schaft­li­che Gesamt­la­ge eines Landes.

Sodann zur Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit: Der Staat gewähr­lei­stet sie, indem er die Rol­le einer Genos­sen­schaft über­nimmt. Er orga­ni­siert die Beschaf­fung wich­ti­ger Dienst­lei­stun­gen und Güter – die Volks­schul­bil­dung, die Poli­zei, die sozia­le Sicher­heit mit AHV und Kran­ken­ver­si­che­rung, die öffent­li­che Infra­struk­tur von der Grün­an­la­ge bis zur  Auto­bahn –, um sie mög­lichst kosten­gün­stig allen zur Ver­fü­gung zu stel­len. Je stär­ker die­se Auf­ga­be den Son­der­in­ter­es­sen ein­zel­ner Grup­pen über­las­sen wird, desto mehr lei­det die Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit darunter.

Und schliess­lich zu den Bür­ger­rech­ten: Die Ver­fas­sung räumt uns die Frei­heit ein, unser Leben nach unse­ren Vor­stel­lun­gen leben zu dür­fen. Doch damit allein ist es nicht getan. Denn wer kei­nen Zugang hat zu Bil­dung, Gesund­heits­vor­sor­ge, Ener­gie und Mobi­li­tät, dem nüt­zen die Frei­heits­rech­te herz­lich wenig. Wirk­lich frei ist ein Mensch erst, wenn er mit Gütern und Fähig­kei­ten aus­ge­stat­tet ist, die es ihm erlau­ben, eine Wahl zu tref­fen, nach eige­nem Wil­len zu han­deln und Chan­cen zu ergrei­fen. Genau die­se Auf­ga­be erfüllt der Staat mit sei­nem öffent­li­chen Sek­tor und sei­nem Ser­vice public: Er haucht den Frei­heits­rech­ten Leben ein und ver­leiht ihnen Durch­set­zungs­kraft. Je mehr der demo­kra­ti­sche sozia­le Rechts- und Dienst­lei­stungs­staat ent­mach­tet wird, desto unfrei­er wird die Bevölkerung.

In Kri­sen ver­sagt der Markt

Wie sehr wir alle auf die­sen Staat ange­wie­sen sind, haben nicht zuletzt die Jah­re der Pan­de­mie ein­drück­lich offen­bart. Ohne das staat­li­che Han­deln im Gesund­heits­schutz, ohne die staat­li­chen Vor­keh­run­gen zur sozia­len Absi­che­rung der Bevöl­ke­rung und ohne die staat­li­chen Stüt­zungs­mass­nah­men für die Unter­neh­men wäre die Schweiz der­art ver­hee­rend von der Pan­de­mie getrof­fen wor­den, dass sie Jah­re gebraucht hät­te, um wie­der auf die Bei­ne zu kommen.

Und auch mit Blick auf den Ukrai­ne-Krieg und sei­nen Ver­wer­fun­gen ins­be­son­de­re im Ener­gie­be­reich und in der Güter­ver­sor­gung gilt das glei­che: Markt­fun­da­men­ta­lis­mus und Neo­li­be­ra­lis­mus nüt­zen uns in die­ser Lage nichts. Es braucht einen Staat, der mit star­ken demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten Instru­men­ten und Mit­tel aus­ge­stal­tet ist, um im Dien­ste der Men­schen han­deln und inter­ve­nie­ren zu kön­nen, unab­hän­gig von Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen ein­zel­ner finanz­star­ker Gruppen.

Der Staat – das sind wir

Vor die­sem Hin­ter­grund sind wir gut bera­ten, unse­re alten neo­li­be­ra­len Denk­mu­ster auf die Müll­hal­de der Geschich­te zu wer­fen und bestrebt zu sein, unse­ren Staat wie­der zu stär­ken. Wir machen uns selbst einen Gefal­len damit. Denn der demo­kra­ti­sche sozia­le Rechts- und Dienst­lei­stungs­staat – das sind wir.

Wal­ter Langenegger

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