Von Bern zum südrumänischen Konstanza am Schwarzen Meer: Das sind rund 2200 Kilometer – etwa dieselbe Strecke, die das Wasser der Donau von ihrer Quelle in Donaueschingen nördlich des Bodensees bis zu ihrer Mündung im Donaudelta zurücklegt. Ein Reisebericht über einen Roadtrip durch einen eher unbekannten Teil Osteuropas:
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Erste Station: Pressburg, heute Bratislava, Hauptstadt der Slowakei. Was vielen nicht bewusst ist: Die Stadt liegt nur einen Steinwurf von Wien entfernt, dem einstigen Zentrum des imperialen Habsburgerreichs. Die beiden Städte bilden gleichsam die zwei Säulen des Torbogens von der deutschen zur slawischen Welt.
Mit Wien kann sich Bratislava allerdings weder kulturell, geschichtlich noch architektonisch messen. So beeindruckend sich die Bratislaver Burg auch über die reizvolle mittelalterliche Altstadt erhebt: Die Stadt ist eine aus der Not geborene Hauptstadt. Im 16. und 17. Jahrhundert diente sie dem ungarischen Königreich nur deswegen als Regierungssitz, weil Buda unter osmanische Kontrolle gefallen war. Und nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 wurde Pressburg nur deswegen zu Bratislava und zur Hauptstadt der Slowakei, weil sie die grösste Stadt im slowakischen Sprachgebiet war. Dies führte zu der Kuriosität, dass die Hauptstadt an der westlichen Grenze des Landes liegt – 500 Kilometer von der Ostgrenze zur Ukraine entfernt.
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Zweite Station: Timisoara oder Temeswar, zweitgrößte Stadt Rumäniens. Die Stadt wird aufgrund ihrer prachtvollen, gut erhaltenen historischen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert auch „Klein-Wien“ genannt. Im 18. Jahrhundert kam sie unter habsburgische Herrschaft, wurde stark modernisiert und entwickelte sich zu einem der ersten urbanisierten Zentren in der Region.
Was die Stadt darüber hinaus ebenfalls besonders auszeichnet: Sie ist ein wichtiges Zentrum für das Banat. einer weiten, flachen bis leicht hügeligen Landschaft mit fruchtbaren Böden in der Pannonischen Tiefebene. Jahrhundertelang war es das Schlachtfeld zwischen dem Osmanischen Reich und der K.-und‑K.-Monarchie, was immer wieder zu Verwüstung und Entvölkerung ganzer Landstriche führte. Dies und die einst ausgedehnten Sumpfgebiete waren die Ursachen für die dünne Besiedlung der Region.
Das änderte sich erst ab dem 18. Jahrhundert, als das Banat unter habsburgischer Herrschaft kam. Die Monarchie begann zum einen mit der Ansiedlung von Kolonisten, vor allem Deutschen (Donauschwaben), sowie Serben, Ungarn und anderen ethnischen Gruppen. Zum anderen wurden Entwässerungsmaßnahmen ergriffen, die das Gebiet in ein hervorragendes Agrarland verwandelten. Doch 200 Jahre später erfolgten erneut tiefe Umbrüche: Seine eigenständige Identität verlor das Banat mit dem Ersten Weltkrieg, als es unter Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt wurde. Und seine deutsche Prägung verlor es, als nach 1945 viele Deutsche enteignet, deportiert oder vertrieben wurden, was die ethnische Zusammensetzung nachhaltig veränderte.
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Dritte Station: Hermannstadt, heute Sibiu. Die Stadt, gelegen in den Karpaten und durch diese geografisch getrennt vom Süden Rumäniens, war einst ein Zentrum der Siebenbürger Sachsen. Sie war stets nach Nordwesten orientiert, was man ihr bis heute ansieht: Wer sie besucht, wähnt sich in einer mittelalterlichen Stadt mitten in Deutschland.
Lange Zeit war Hermannstadt ein Bollwerk gegen osmanische Angriffe und später eine wichtige Statthalterin der Habsburgermonarchie in Transsilvanien (so benannt, weil das Land von Westen her gesehen hinter den dicht bewaldeten Karpaten liegt). Mit dem EU-Beitritt Rumäniens hat sich die Stadt zu einem Wirtschaftsmotor entwickelt, mit zahlreichen Niederlassungen deutscher Unternehmen.
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Vierte Station: Bukarest, die Hauptstadt Rumäniens. Um Bukarest zu erreichen, muss man die Karpaten überwinden. Die Hauptroute führt durch die Olt-Schlucht, ein wildromantisches Durchbruchstal, geformt vom gleichnamigen Fluss Olt. Sie verbindet Transsilvanien mit der Walachei, deren Zentrum Bukarest ab dem 17. Jahrhundert wurde.
Bukarest ist eine Metropole, deren wechselvolle Geschichte – von der Monarchie über den Kommunismus bis zur Revolution 1989 – im Stadtbild eindrücklich sichtbar ist: Sinnbild dafür sind die vielen Monumental- und Prestigebauten sowie vor allem der monströse Ceaușescu-Palast, mit einer Nutzfläche von 365‘000 Quadratmetern das grösste Gebäude Europas. Für dessen Bau wurde ein Grossteil der Altstadt geopfert.
Und das nimmt auch heute kein Ende: Hinter dem Palast entsteht die größte orthodoxe Kirche der Welt – mit einer Höhe von 127 Metern und Kosten von einer halben Milliarde Euro. Gleichzeitig fehlt es vielerorts an öffentlicher Infrastruktur. Dieses Spannungsfeld zwischen Prunk und Defiziten spiegelt sich überall in der Stadt wider: ein erstickender Autoverkehr, eine architektonisch oft kuriose Mischung aus Alt und Neu, eine skurrile Koexistenz von schmucken historischen Bauten wie alten Klöstern inmitten von hässlichen Betonfassaden oder das billige Ausgehviertel hinter dem Prunkbau der Nationalbank.
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Fünfte Station: Konstanza, eine der ältesten Städte Rumäniens, gelegen an der Westküste des Schwarzen Meers und damit sozusagen am Ende Europas und an der Schwelle zum Orient. Sie wurde in der Antike als griechische Kolonie unter dem Namen Tomis gegründet. Ihre strategische Lage macht die Stadt zum einen zu einem zentralen Knotenpunkt für den Güterverkehr zwischen Europa und Asien. Zum anderen ist Konstanzas Lage gleichsam ein Grenzposten hin zu einer Welt, die uns trotz Globalisierung und technischem Fortschritt alles andere als vertraut geworden ist.
Und das wiederum erinnert den Besucher, der an der Küste des Schwarzen Meers in Richtung Norden und Osten blickt, daran, wie verletzlich und gefährdet Europa ist. Denn hinter dem Horizont liegen Odessa und die Ukraine, wo Putins Angriffskrieg tobt – ein Krieg, den vor kurzem noch kaum jemand für möglich gehalten hätte. Fast scheint es so, als ob die Sturmwolken und die wilde See im November eine Mahnung an Europa wären …
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PS. Es gibt nicht nur „deutsche“ Tore zur slawischen Welt, sondern auch Tore, die die latinische Welt mit Osteuropa verbinden. Eines davon ist – nebst Trieste – Gorizia (Görz), an der Grenze zwischen Italien und Slowenien. Einst Teil der Habsburgermonarchie, wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugesprochen. Während des Kalten Krieges lag die Stadt an der Grenze zwischen Ost und West, wobei der benachbarte slowenische Teil als Nova Gorica in Jugoslawien verblieb. Heute, dank der EU, sind die slowenischen und italienischen Stadtteile wieder frei zugänglich – ein hoffnungsvolles Symbol europäischer Integration.