Das Versprechen von 1996 blieb unerfüllt: Das auf neoliberale Marktlogik basierende Krankenversicherungsgesetz (KVG) brachte dem Gesundheitswesen nicht Effizienz und Kostenkontrolle, sondern einen Pseudo-Wettbewerb mit Prämienexplosion. Leidtragende ist die Mittelklasse, die finanziell unter Druck gerät. Die Prämienentlastungs-Initiative der SP bietet nun die Chance, am 9. Juni die Notbremse zu ziehen, eine sozialere Finanzierung durchzusetzen und längst fällige Korrekturen vorzunehmen.
Was vor knapp 30 Jahren mit dem KVG versucht wurde, war die Quadratur des Kreises: Mehr Markt und Wettbewerb hätten im öffentlichen Gesundheitswesen zu mehr Kostendisziplin und Kostenkontrolle führen sollen. Doch geschehen ist das Gegenteil. Denn Markt und Service public vertragen sich nicht. Ersterer gehorcht der Logik der Rendite, letzterer dem Geist des Gemeinwohls. Wer beides kombiniert, erhält ein geschlossenes und bürokratisiertes System, in welchem sich vor allem Partikularinteressen durchsetzen und die Kosten ungebremst wachsen. Das ist sozusagen der Fluch der ersten Tat.
Für die breite Bevölkerung bedeutet diese Fehlkonstruktion, dass die Krankenkassen-Prämien für Erwachsene seit 1997 um insgesamt 158 Prozent oder im Schnitt von 173 Franken auf 427 Franken angestiegen sind, während Löhne und Renten lediglich um 12 Prozent wuchsen. Mussten vor 30 Jahren im Schnitt noch acht Prozent des Einkommens für die Prämie aufgewendet werden, sind es heute 14 Prozent. Je nach Kanton und Haushaltstyp kann die Prämie gar bis zu einem Fünftel des Lohnes beanspruchen.
Neoliberale Fehlkonstruktion
Dass dies geschehen würde, hätte die Politik schon vor 30 Jahren wissen können. Doch der in den 90er-Jahren aufkommende Neoliberalismus übte schon damals eine verführerische, wenngleich falsche Faszination aus. Und so machte die Politik aus Ärzten, Spitälern, Krankenkassen, Kantonen und anderen Leistungserbringern renditegetriebene Konkurrenten auf einem Markt, der gar kein richtiger Markt sein kann. Denn erstens setzt ein Markt Wahlfreiheit voraus – was man nicht hat, wenn man krank ist, unter Schmerzen leidet und der Tod droht. Und zweitens ist der Gewinn der privaten Akteure im Gesundheitswesen praktisch garantiert, weil die Kosten faktisch risikolos auf die Prämienzahlenden und den Staat abgewälzt werden können.
Dieses System erwies sich für eine Reihe von Leistungserbringern als höchst lukrativ. Dementsprechend haben sie es sich bestens darin eingerichtet: die Pharma mit überhöhten Preisen, die Spitäler mit renditeorientierter Bettenbelegung und teuren Eingriffen, die Chef- und Fachärzten mit Top-Salären und Privatpraxen und die Krankenkassen mit hohen Verwaltungskosten und bestbezahlten Verwaltungsräten. Sie bestimmen das Angebot, die Menge, die Qualität und meist auch den Preis und haben wenig Interesse daran, Kosten zu sparen.
Ungerechtes Prämiensystem
Zusätzlich verschärft wird die Problematik der neoliberalen KVG-Fehlkonstruktion dadurch, dass ein Hauptteil der Gesundheitsfinanzierung über Prämien erfolgt. Das ist sozial- und verteilungspolitisch höchst kontraproduktiv. Denn Prämien sind Kopfsteuern und daher per se ungerecht. Der Manager bezahlt gleich viel wie die Verkäuferin. Heute werden 35 Milliarden der sich auf insgesamt 90 Milliarden belaufenden jährlichen Gesundheitskosten über die obligatorische Krankenversicherung bzw. über Kopfsteuern finanziert. Zwar tragen auch Bund und Kantone die Gesundheitskosten mit und finanzieren diese grösstenteils mit Mitteln aus den progressiven und somit sozial gerechten Einkommenssteuern. Mit 20 Milliarden ist der Anteil des Staates aber deutlich geringer als jener der Prämienzahlenden.
Mittelklasse unter Druck
Unter dem Strich führt dieses Finanzierungsmodell dazu, dass die Mittelklasse die schwerste Finanzlast trägt. Denn die hohen Einkommen entrichten nebst den Prämien zwar auch höhere progressive Einkommenssteuern und finanzieren damit die KVG-Beiträge von Bund und Kantone mit. Doch proportional zu ihrem Einkommen zahlen sie immer noch weniger als die breite Bevölkerung. Die tiefen Einkommen wiederum erhalten eine Prämienverbilligung, was sie (zu Recht!) etwas entlastet. Insgesamt findet aber auf diesem Weg vor allem eine ungesunde Umverteilung von der Mittelklasse zu den hohen Einkommen statt.
Ungute Rolle der Kantone
Dies gilt umso mehr, als sich die Prämienverbilligung als ungenügend erwies. Sie war als Kompensation dafür eingeführt worden, dass auf eine solidarische, über die Steuerhaushalte gedeckte Prämienfinanzierung verzichtet worden war. Doch die dafür zuständigen Kantone spielten eine ungute Rolle und missbrauchten die Prämienverbilligung als finanzpolitische Manöviermasse, etwa unter anderem für die Senkung der Einkommensteuern. 17 von 26 Kantonen reduzierten zwischen 2011 und 2017 ihre Zuschüsse – dies trotz steigenden Gesundheitskosten und stagnierenden Löhnen und Renten. Heute wenden 18 Kantone weniger Geld für die Prämienverbilligung auf als noch vor zehn Jahren. So machen die Zuschüsse mit sechs Milliarden nur noch sieben Prozent der Gesamtkosten aus.
Im Würgegriff der Lobbyisten
Hinzu kommt, dass das KVG kaum reformierbar ist. Die Gesundheitslobby hat die Politik inzwischen derart durchdrungen, dass es äusserst schwierig ist, die hohen Margen und garantierten Gewinne der Medizinalbranche anzutasten. 2016 kam eine Expertengruppe zum Schluss, dass in der Grundversicherung zwanzig Prozent der Kosten reduziert werden kann – ohne Qualitätseinbussen. Doch die vielen gut bezahlten Lobbyisten im Parlament (jedes dritte Ständerats- und Nationalratsmitglied gehört laut Lobbywatch dazu) haben es bis heute verstanden, eine speditive Umsetzung des damals von Gesundheitsminister Bundesrat Alain Berset lancierten Sparpakets zu verschleppen.
Bei Finanzierung ansetzen
Vor diesem Hintergrund bringt es nichts, immer wieder das Kostenwachstum medienwirksam zu beklagen. Das ist für die Galerie. Denn da beisst sich die Katze nur immer wieder in den Schwanz. Nötig ist vielmehr, die neoliberalen Fehlanreize auszuhebeln. Das schafft man am besten mit der Neugestaltung der Finanzierung. Genau das schiebt die SP mit ihrer Prämienentlastungs-Initiative an: Werden die Prämien auf maximal zehn Prozent des verfügbaren Einkommens beschränkt, sind Bund und Kantone gezwungen, für die Prämienverbilligung je nach Schätzungen zusätzlich zwei bis sieben Milliarden zur Verfügung zu stellen. Und dieser finanzielle Druck auf die Politik würde sehr viel verändern.
Zum einen wäre dies echte Politik zugunsten der Mittelklasse – und zwar insbesondere zugunsten der unteren Mittelklasse. Denn davon profitieren würden nicht nur Personen mit kleinen Löhnen, sondern vor allem solchen mit mittleren Einkommen, darunter Familien und Rentner-Paare. Die Kaufkraft der Bevölkerung würde auf breiter Front gestärkt, was vielen Menschen in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten und Mieten mehr finanziellen Spielraum verschaffte. Der positive Nebeneffekt davon: der Wirtschaft brächte dies automatisch mehr Nachfrage und Konsum.
Zum anderen würde ein Ja zur Initiative den Druck der Gesundheitskosten weg von der Bevölkerung hin zur Politik verschieben. Bund und Kantone könnten die Kosten nicht einfach weiterhin auf die Prämienzahlenden abwälzen, sondern müssten vorwärts machen mit dem Abbau von teuren Pfründen im Gesundheitswesen. Und sie müssten die Finanzierung solidarischer ausgestalten, indem sie mehr Lasten aus ihren von progressiven Steuern alimentierten Haushalten finanzieren. Das wiederum bedeutete etwas mehr soziale Umverteilung von oben nach unten. Und das wäre nur richtig so.
Notbremse mit Potenzial
Das macht deutlich: Die Prämienentlastungs-Initiative hat im Gegensatz zu allen bisherigen Bestrebungen viel Potenzial, das Gesundheitswesen in die richtige Richtung zu lenken und daraus einen funktionierenden Service public im Dienst der gesamten Bevölkerung und im Geiste des Gemeinwohls zu machen. Die Stimmberechtigten tun daher gut daran, am 9. Juni an der Urne die Notbremsung zu wagen. Sie können nur gewinnen – wie schon bei der 13. AHV-Rente!
Autor: Walter Langenegger
Grafik oben: SP Schweiz