März 2023. Nein, der globale Bankencrash 2008 war nicht bloss ein Betriebsunfall. Er war kein Fehler im System, der sich mit dem Drehen einiger Schrauben beheben lässt. Er war vielmehr ein erstes Beweisstück dafür, was in jüngster Zeit immer deutlicher zu Tage tritt: Nicht das System hat Fehler; das System an sich ist ein Fehler. Das System heisst Neoliberalismus, basiert auf Marktradikalität und zerstörerischem Wettbewerb und produziert in immer engeren Zeitabständen immer neue soziale, ökologische und ökonomische Krisen.
Der Markt frisst seine Kinder
Die jüngste Krise trägt den Namen Credit Suisse (CS). Wieder musste der Staat mit Milliarden eine Bank retten. Dabei hätte der neuerliche Crash gar nicht passieren dürfen. Die nach der Bankenkrise erlassenen „Too-big-to-fail“-Gesetze hätten den Bail-out von systemrelevanten Banken künftig verhindern sollen. Doch der Markt frisst seine eigenen Kinder: Ausgelöst durch das CS-Management und dessen Hybris entzog er der Bank in seiner übersteigerten Nervosität und trotz vorhandener Liquidität das Vertrauen. Marktversagen total. Und die Rechnung zahlen Staat und Bevölkerung.
Dass es erneut die Finanzwelt traf, ist symptomatisch. Die Banken sind die Sperrspitze des Neoliberalismus. Sie waren die Ersten, die in den 1980er- und 1990er Jahren liberalisiert, dereguliert und damit globalisiert wurden, verhandelt und beschlossen in den Sitzungszimmern der Welthandelsorganisation WTO und ohne Mitsprache der Völker. Ihnen folgten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs andere Wirtschaftszweige und überzogen den Globus mit einem Wirtschaftssystem, das sich einzig nach dem Marktprinzip richtete: Wettbewerb und Rendite.
Leere Versprechen
Die neue Ideologie versprach Prosperität. Der Abbau von Staat und Marktschranken sollte mehr Wohlstand für alle bringen, den Frieden dank eines Netzes von ökonomischen Interdependenzen sichern und die Demokratie als vorherrschende Staatsform mittels der Idee „Wandel durch Handel“ etablieren. Je weniger Protektionismus und staatliche Regulierungen, so das Credo, desto wohlhabender und friedlicher die Welt.
Heute, 30 Jahre später, müssen wir erkennen, dass dies leere Versprechen waren. Denn wo die Menschen nicht durch Regeln geschützt sind, da macht sich Willkür breit. Die Starken unterwerfen die Schwachen, die reichen Länder beuten die armen aus und die Eliten bereichern sich. Und genau das geschah. Die Welt wurde nicht besser und sicherer. Im Gegenteil, mehr denn je plagen die Menschen rund um den Globus Zukunftsängste. Und das mit gutem Grund.
Noch mehr Ungleichheit
Dass der freie Verkehr von Kapital, Waren und Dienstleistungen Produktivität und Reichtum gefördert hat, kann man dem Markt zwar in der Tat nicht absprechen. Die Weltwirtschaft wuchs massiv. Doch die Fehlkonstruktion des Systems besteht darin, dass davon zur Hauptsache nur die Oberschichten profitierten. Sie kontrollieren Konzerne, Finanzinstitute und ganze Branchen, üben Einfluss auf Politik und Gesellschaft aus und steuern Börsen und Märkte. Die breite Bevölkerung dagegen hat kaum etwas davon. Im Gegenteil, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter.
Das gilt auch für das reiche Europa. Zwar schützen Sozialstaat und Service public zumindest teilweise vor einer Verarmung breiter Schichten. Viele Menschen strampeln sich aber bei tiefen Löhnen ab, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen und eine Perspektive für ihre Kinder zu haben. Wohin das führt, zeigte sich in Grossbritannien, einem der neoliberalsten Länder: Auch in diesem Fall frass der Markt seine eigenen Kinder, indem die Bevölkerung aus Frust über den sinkenden Lebensstandard den Brexit wählte. Die Menschen freilich gerieten damit vom Regen in die Traufe. Weil die regierenden Tories in ihrem marktradikalem Denken längst die Bodenhaftung verloren haben, steckt das Land nach wie vor ökonomisch und sozial in der Krise.
Demokratie in Gefahr
Die Prekarisierung der unteren Schichten, die Angst der Mittelklasse vor Wohlstandsverlust und die Spaltung der Gesellschaften in vielen Verlierern und wenigen Gewinnern haben in der westlichen Welt auch den Glauben in die Demokratie erodieren lassen. Autoritarismus und Rechtsextremismus nehmen zu und faschistoide Bewegungen haben Zulauf. Italien, Polen und Ungarn sind dafür beredte Beispiele in der EU.
Aber auch weltweit verliert die Kombination von Marktradikalismus und Demokratie an Terrain. In vielen Ländern des Südens wenden sich die Menschen enttäuscht von der Demokratie ab, was den Aufstieg von Machthabern erlaubt, die ihre Länder mit einer Steinzeit-Politik in den Faschismus und in die ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Degression führen. Damit entpuppt sich der Neoliberalismus als Totengräber statt als Förderer der Demokratie.
China gross gemacht
Dramatisch ist auch, welche Folgen die globale Durchsetzung des Marktprinzips für die Geopolitik hatte. Erst der Neoliberalismus machte wahr, was China, Russland und Indien aus eigener Kraft nie geschafft hätten: nämlich zu einer ernsthaften Bedrohung für die westliche Welt zu werden. Es war die WTO, die den autoritären Systemen den Zugang zum Weltmarkt eröffnete und ihnen damit ermöglichte, ihre wirtschaftliche Potenz zu entfalten, zu einer Werkbank der Welt zu werden und damit ausgerechnet den Westen als Erfinder dieses Wirtschaftssystems in Geiselhaft zu nehmen.
Raubbau am Planeten
Noch dramatischer ist der Schaden, den der Marktradikalismus der Umwelt und dem Klima zugefügt hat. Dass Umweltzerstörung und Ressourcenverschleiss den Planeten bedrohen würde, davor warnte der Club of Rome schon, bevor US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher vor über 40 Jahren den Neoliberalismus einläuteten. Es war schon damals klar, dass die neue Ideologie in der Umwelt einzig einen günstigen oder gar kostenlosen Rohstoff sehen würde, der sich durch Privatisierung in lukrative Renditen verwandeln lässt. Und genau das geschah: Wir gestatteten im Namen einer angeblich „freien Wirtschaft“, unsere Lebensgrundlage zu einer Handelsware zu degradieren, obwohl wir wussten, dass für den Markt immer nur eines relevant ist: der Aktienkurs und nicht der Zustand des Amazonas, der Weltmeere oder des Klimas.
Eine Krise folgt der anderen
All dies hat die Welt dorthin geführt, wo sie heute steht. Der sinkende Lebensstandard weiter Bevölkerungsschichten im Westen und die Unterminierung der Demokratien von den USA bis Israel, der religiöse Fanatismus in der muslimischen Welt, die dramatische Armut in Schwarzafrika, die immer neuen sozialen Konflikte in Südamerika, der Aufstieg Chinas und Russlands zu monströsen Mächten mit der Rückkehr des Kalten Krieges und eine systematische Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlage: Das alles sind die Konsequenzen einer gescheiterten neoliberalen Marktideologie.
Ob Ukraine-Krieg oder Migrationsströme, ob Wassermangel in Europa oder Mega-Taifune in Asien, ob Corona-Krise oder Medikamenten-Notstand, ob Energiemangellage oder Bankencrashs: Im Kern haben all diese Krisen ihren Ursprung immer in unserem heutigen Wirtschaftssystem, welches Ausgleich, soziale Verantwortung und Solidarität zerstört und stattdessen auf die Ausbeutung von Mensch und Natur setzt, den Kampf alle gegen alle befeuert und die Mächtigen noch mächtiger macht.
„Change the system“
Viele scheinen sich heute immerhin bewusst zu sein, dass der Neoliberalismus ein Fehler war und es auf Dauer kein gangbarer Weg sein kann, dass der Staat und die Allgemeinheit die Funktion einer Reparaturmaschine für den Neoliberalismus übernehmen. „Change the system“, fordert die Klimajugend zurecht. Das Problem ist allerdings, welche Optionen wir haben. 40 Jahre Marktradikalität haben alternative Wirtschaftsmodelle vom Tisch gefegt. Wenn das Marktprinzip tot ist: Was soll an seiner Stelle treten?
Dass darüber Ratlosigkeit herrscht, manifestiert sich in den immer häufigeren Konflikten rund um die Weltwirtschaft. Die WTO ist seit 2019 blockiert, deren Prinzipien erodieren und das System zeigt Risse. Handelskriege, Zollstreitigkeiten und Boykotte zwischen den Wirtschaftsblöcken nehmen zu, und die Länder beginnen, sich mit dem Hinweis auf „nationale Interessen“ abzuschotten.
Repolitisierte Wirtschaft
Auslöser dieser Entwicklung sind ironischerweise ausgerechnet deren Gründer: die USA. Sie fahren spätestens seit der Corona-Krise und erst recht seit des Ukraine-Kriegs einen Kurs, der in eine klare Richtung weist: Die Wirtschaft ist nicht mehr apolitisch, sondern hochpolitisch und Teil der Machtpolitik. Die Politik ides Westens hat sich damit in gewissem Sinne ihr an die Wirtschaft verlorenes Primat zurückgeholt, wenngleich auf ungeplante Art und Weise.
Was das heisst, erleben wir täglich: Entgegen allen Marktregeln forcieren die USA mit Milliardensubventionen die Re-Industrialisierung des Landes, insbesondere im Bereich der Halbleiter-Produktion. Das geht so weit, dass zum Beispiel das niederländische Unternehmen ASLM als weltweit grösster Anbieter von hochkomplexen Maschinen zur Herstellung von Chips seit kurzem nicht mehr nach China exportieren darf und künftig in den USA produzieren soll.
Ähnliches, wenn auch in geringerem Ausmass, geschieht in der Schweiz. Plötzlich greift der Staat zwecks Versorgungssicherheit mit Reservekraftwerken und finanziellen Fallschirmen in den Energiemarkt ein und stellt zur Debatte, angesichts von Lieferengpässen im Medizinalbereich Arzneien und Impfstoffe im staatlichen Auftrag zu produzieren. Erstaunliches zeigte sich auch bei der CS-Rettung: Eine Mehrheit der Bevölkerung wäre bereit gewesen, die CS zu verstaatlichen – eine Haltung, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.
Hartnäckige Ideologie
Mit dem Versagen des Marktes scheint der Wirtschaft vermehrt wieder jene Rolle zugewiesen zu werden, die ihre richtige ist: Sie ist nicht Selbstzweck und gehört nicht auf einen unantastbaren Sockel; sie ist Mittel zum Zweck und hat sich der Politik, der Demokratie und den Bedürfnissen der Menschen unterzuordnen. Diese Einsicht scheint immerhin zumindest in geopolitischen und strategischen Fragen an Boden zu gewinnen.
Ob das Anlass zur Hoffnung ist, ist aber nicht gesagt. Denn nötig wäre es, die neoliberale Ideologie auch dann zu hinterfragen, wenn es darum geht, allen Menschen ein Leben in Anstand, Würde und Wohlstand zu ermöglichen – also dann, wenn es um Bildung, Gesundheits- und Altersvorsorge, gerechte Löhne, bezahlbaren Wohnraum und faire Lebenschancen für alle geht.
Hier allerdings scheint sich das marktradikale Denken in den bürgerlichen und liberalen Parteien hartnäckig zu halten. Das zeigt sich etwa daran, dass die EU mit dem Abbau von Subventionshilfen nach wie vor den Service public deregulieren und privatisieren will. Und es zeigt sich daran, was derzeit in Frankreich geschieht: Dort boxt Präsident Emmanuel Macron gegen den Willen von Parlament und Bevölkerung gerade eine neoliberale Rentenreform durch. Und in der Schweiz ist es nicht besser: Auch hier drohen marktradikale Reformen, die Altersvorsorge zu verschlechtern.
Eine Zeitenwende?
Von einer Zeitenwende sprach der deutsche Kanzler Olaf Scholz, als der Ukraine-Krieg ausbrach. Ob es sich tatsächlich um eine solche handelt, wird allerdings nicht nur vom Ausgang des Krieges abhängen, sondern auch davon, ob es die führenden Nationen und Demokratien des Westens schaffen, sich vom Neoliberalismus zu lösen und ein Wirtschaftssystem zu etablieren, das nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit und Umverteilung nach unten sowie ökologische Nachhaltigkeit verspricht, sondern tatsächlich auch realisiert. Das ist der Punkt!
Gelingt dies nicht, hinterlassen wir den nächsten Generationen in der Tat eine überaus düstere Welt.
Autor: Walter Langenegger
Titelbild: Gemma Evans auf “Unsplash”