Juni 2023. Der Balkan ist ein Katzensprung von der Schweiz entfernt. Von Bern aus ist die Strecke bis zur Grenze Sloweniens etwa so weit wie nach Marseille in Frankreich oder nach Brüssel in Belgien. Doch was uns räumlich so nahe ist, scheint uns in unserem Kopf weit entfernt zu sein. Umso mehr ist eine Reise in den Balkan daher stets auch eine kleine Entdeckungsfahrt.
„Sarajewo?“, so die Kollegin. „Wie kommt man auf die Idee, nach Sarajewo zu fahren?“ Gute Frage – und vor allem eine Frage, die bezeichnend ist. Sie zeigt, wie bescheiden das Interesse der allermeisten an dieser europäischen Region ist. Vielleicht, weil der Balkan anders als Frankreich, Spanien oder Italien nie ein Imperium oder eine Grossmacht war, sondern stets ein schwer überschaubares Siedlungsgebiet mit unterschiedlichsten Völkerschaften? Oder weil dieser Teil Europas meist nur Vasall und Kolonie war: erst von Rom und Byzanz, später der Osmanen und am Schluss der österreichischen Habsburger? Oder weil viele Menschen aus dem Balkan hier leben und sie uns daher vertraut erscheinen?
Alter Glanz
Wie schwer der Balkan allerdings fassbar ist, zeigt sich schon an einem seiner Eingangspforten: der Stadt Trieste. Hier treffen sich die lateinischen, slawischen, griechischen und jüdischen Kulturen; hier trifft Mitteleuropa auf den mediterranen Raum. Erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Italien geschlagen, versprüht die Hafenstadt denn auch nur bedingt Italianità, sondern vermittelt eher den einstigen Glanz der habsburgerischen k.u.k.-Monarchie: beeindruckende Repräsentionsbauten, prächtige Bürgerhäuser, elegante Einkaufsstrassen, weitläufige Plätze; stets ventiliert von der Brise, die vom Meer her über den Hafen und in die Stadt weht. Städte-Ratings attestieren Trieste denn auch eine überdurchschnittlich hohe Lebensqualität.
Architektonisch und kulturell lebendig ist das Erbe der alten österreichischen Monarchie auch an der nächsten Etappe: Zagreb, die Hauptstadt Kroatiens. Am Fusse der auf zwei Hügeln gelegenen mittelalterlichen Ober- und Unterstadt mit ihrem Kanonenturm erstrecken sich schachbrettförmig jene Stadtteile, welche die Herrschaftszeit der Monarchie widerspiegeln: neoklassizistische Stadthäuser, breite Strassen, grüne Parkanlagen und dazwischen Prachtbauten wie die Stadtoper oder die Universität. Letztere alle in gelber Farbe gehalten, weil das Haus Habsburg der lokalen Bevölkerung damit manifestieren wollte, wie vorteilhaft es war, Teil der Monarchie zu sein.
Telsa, Zagrebs berühmtester Bürger
Wichtiger ist der Stadt Zagreb aber freilich eine andere Bewandtnis aus jener Zeit: nämlich Nikola Tesla, ihr prominentester Bürger, geboren 1856. Ein genialer Kopf, Gegenspieler des US-Unternehmers Edison, Pionier des elektrischen Zeitalters und Erfinder des Wechselstroms, des Elektromotors, des Radios und der Neonröhre und anderes. Pech für Zagreb allerdings: Tesla wuchs zwar in Kroatien auf, seine Eltern aber waren ethnische Serben. Und heute streiten sich Serbien und Kroatien, wer Tesla für sich reklamieren kann.
Mit solchen Berühmtheiten kann die nächste Etappe, Banja Luka, nicht aufwarten. Schlimmer noch: Die Stadt in Bosnien-Herzegowina steht für Krieg und Vertreibung in den 1990er-Jahren nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens. Die bosnischen Serben massakrierten und vertrieben die muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten aus der Stadt und errichteten hier die inoffizielle Hauptstadt der Republika Srpska. Und so kommt die Stadt heute auch daher: Das Orthodoxe ist allgegenwärtig und überall weht nur eine Fahne, jene der Republik Serbien.
Sarajevo leidet
Über 40 Prozent des Staatsgebietes von Bosnien-Herzegowina kontrollieren die Serben heute, dies mit einem Bevölkerungsanteil von nur 30 Prozent. Das macht Bosnien-Herzegowina immer noch zu einem geteilten Land – und ihre Hauptstadt Sarajevo zu einer verletzten Stadt. Denn so aufgeschlossen multikulturell und weltoffen sich die Stadt präsentiert: Sie bleibt geschunden und gefangen im Dayton-Friedensvertrag, der die Separation der Ethnien nicht aufzulösen vermag, sondern sie im Gegenteil zementiert und Sarajewo und die Föderation wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch zum Stillstand verdammt. Die Folge: Mangels ökonomischen Perspektiven wandert die Jugend aus, Bosnien schrumpft seit Jahren.
Hier treffen sich Ost und West
Und trotzdem ist Sarajevo eine Reise wert. Hier treffen sich Okzident und Orient. Im alten Stadtkern mit seiner grossen Moschee, den kleinen muslimischen Kaffeehäusern, dem Mondturm und dem Sebilj-Brunnen wähnt man sich ins osmanische Reich zurückversetzt. Geht man nur ein paar Schritte weiter, findet man sich übergangslos und unvermittelt im Neoklassizismus der Monarchie wieder. Sarajewo, das ist die Moschee neben der Bierbrauerei, die Burkaträgerin neben der jungen Frau im bauchfreien Outfit und die katholische Nonne neben dem orthodoxen Priester.
Sarajevo ist auch Geschichte, schreckliche Geschichte. Überall in der Stadt finden sich Sarajewos Rosen – rot bemalte Stellen, die daran erinnern, wo während des Bosnienkriegs Menschen durch serbischen Beschuss ums Leben kamen. Erschütternd auch der Besuch des Sarajewo-Tunnels – eine unterirdische Fussweg-Verbindung unter dem Flughafen und der einzige Weg hinaus aus der Stadt während der serbischen Belagerung. Beklemmend aber auch die alte Bobbahn am Trebevic-Berg, erbaut für die olympischen Spiele 1984 und einst Sinnbild für Aufbruch und Optimismus. Nun ist sie ein Mahnmal des Niedergangs und der enttäuschten Zukunftshoffnungen. Und schliesslich Sarajewo als Synonym für den Ersten Weltkrieg, ausgelöst durch das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand im Jahre 1914. Der Ort, wo es geschah und den man besichtigen kann, ist unscheinbar und unspektakulär. Und doch markiert diese Stelle mit den zwei Fussabdrücken des Attentäters den Beginn millionenfachen Tötens.
Brücken-Spektakel
Ein Ort einstigen Schreckens auch die nächste Etappe: Mostar. Seine berühmte Brücke über die Neretva war jahrhundertelang Symbol für das friedliche Zusammenleben von Ost und West. Doch auch sie fiel dem Bosnienkrieg zum Opfer, gesprengt von den Kroaten als Kriegsakt gegen die Bosniaken. Inzwischen ist sie zwar wieder aufgebaut. Ein echtes Mahnmal für Frieden ist sie aber kaum. Dazu ist der Touristen-Trubel viel zu gross.
Die letzte Etappe führt vom Hinterland mit seiner grünen und malerisch-hügeligen Landschaft, seinen wasserreichen Flüssen und grossen Laubwäldern wieder an die karge und trockene Küste der Adria nach Split. Die zweitgrösste Stadt Kroatiens ist heute ein touristischer Hotspot. Die architektonischen Erbschaften von der Römerzeit bis hin zur venezianischen und österreichischen Herrschaft bilden eine hervorragende Kulisse für den Tourismus. Und die Menschen kommen aus nah und fern – und zwar in derartigen Massen, dass sich die Menschen in Rest-Kroatien gerne ein Stück dieses Wirtschaftskuchen abschneiden würden.
Sechs Etappen, sechs unterschiedliche Realitäten. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt des Balkans.