Die Mehrheit hat zwar längst nicht immer Recht. Aber in einer Demokratie bekommt sie immer Recht. Genau das ist am letzten Abstimmungssonntag passiert. Die Stimmbevölkerung sagte äusserst knapp Ja zur AHV21. Doch das ist ein Fehlentscheid mit Folgen, welche die Mehrheit der Bevölkerung über Jahre hinaus schmerzlich zu spüren bekommen wird.
Ein gespaltenes Land
Das haarscharfe Ja hinterlässt zunächst ein tief gespaltenes Land. Nicht nur zwischen den Landesteilen und zwischen Stadt und Land ziehen sich tiefe Gräben. Vielmehr hat die AHV21 in der Deutschschweiz einen noch nie dagewesenen Geschlechtergraben geschlagen. Zu verantworten haben dies die bürgerlichen Parteien: Mit dem Argument der angeblichen Gleichstellung der Frau haben sie vielen Männern Tür und Tor für deren Ressentiments geöffnet. Das wird das gesellschaftliche Zusammenleben künftig spürbar belasten.
Schlag gegen die AHV
Sodann ist das Ja zur AHV21 ein empfindlicher Schlag gegen die soziale Sicherheit in der Schweiz. Erstmals in der langen Geschichte der AHV findet bei diesem urschweizerischen Sozialwerk ein Rückschritt statt. Das hat es noch nie gegeben. Alle AHV-Reformen brachten bisher unter dem Strich mehr soziale Sicherheit und nicht wie diesmal einen Abbau.
Das wird die grosse Mehrheit der tiefen und mittleren Einkommen schnell im Alltag zu spüren bekommen – und zwar ganz real im eigenen Portemonnaie. Eine hauchdünne Mehrheit hat sich sehenden Auges selbst finanziell geschadet. Dafür büssen müssen alle. Und zwar auf Generationen hinaus. Denn die Rentenkürzung für die Frauen und die Mehrwertsteuer-Erhöhung sind Entscheide, die auch die Jungen treffen, weil damit die Altersvorsorge in die Zukunft hinaus verschlechtert worden ist.
Oberschicht obsiegt
Dies ist umso schmerzlicher, als die AHV21 nichts mit einer Sanierung des Sozialwerks zu tun hat. Das Einzige, was diese Reform erzielt, ist, dass es die Bürgerlichen geschafft haben, die oberen Einkommen davon zu entbinden, sich an einer gerechten Finanzierung der AHV zu beteiligen. Statt einer Umverteilung von oben nach unten findet eine Umverteilung in die Gegenrichtung statt. Die Last wird nun noch stärker der Mittelklasse überbürdet.
Ruf nach Rentenalter 67
Und dabei wird es nicht bleiben. Auch wenn die Bürgerlichen die Befürchtungen der Linken im Stile der US-Republikaner als Lüge bezichtigten: Natürlich werden GLP, Mitte, FDP und SVP das Volksverdikt als Auftrag interpretiert, mit dem Abbau in der Altersvorsorge ernst zu machen und schon bald das Rentenalter 67 zu fordern. Denn jetzt – nach jahrzehntelangem erfolgreichem linkem Widerstand – spürt die Rechte im mit Abstand wichtigsten politischen Feld Rückenwind. Ihr Schlachtruf wird lauten: „Das Volk will es so.“
Kurzum: Die 50,2 Prozent, die willig den Bürgerlichen gefolgt sind, haben der ganzen Bevölkerung einen fatalen Bärendienst erwiesen.
Linke Vetomacht geschwächt
Dass dies passieren konnte, liegt nicht nur daran, dass die Bürgerlichen wissentlich und zu Unrecht die AHV seit jeher schlechtreden und damit nun ganz offensichtlich Gehör gefunden haben. Es liegt auch an der Schweizer Linken, insbesondere an der Sozialdemokratischen Partei. Viele Jahrzehnte hinweg galt sie als Hüterin des Sozialstaates und als jene Partei, die das Vertrauen der Bevölkerung genoss, wenn es um die AHV ging. Warnte die SP, so war für die Bevölkerung klar: Finger weg davon. Das spielte diesmal nicht mehr, auch wenn es nur ganz knapp misslang.
Zurückzuführen ist dies darauf, dass die Sozialdemokratie heute nur noch über einen Wähleranteil von 16,4 Prozent verfügt. Das schwächt ihre Vetomacht. Als Konsequenz riskiert die Schweiz, ihr sozialpolitisches Gewissen zu verlieren. Dies gilt umso mehr, als auch die Bande zwischen der SP und ihren „Schwestern“, den Gewerkschaften“, immer schwächer werden – oft verschuldet durch Teile in der SP, die sich immer wieder von den Gewerkschaften distanzieren. Die erstarkten Grünen wiederum können diesen Verlust an sozialpolitischer Kraft nur bedingt kompensieren: Sie werden von der Bevölkerung als grüne und nicht als soziale Bewegung wahrgenommen.
Soziale Ungerechtigkeit nimmt zu
Ein gespaltenes Land, ein Schlag gegen das wichtigste Sozialwerk der Schweiz und eine Sozialdemokratie, die als soziale Garantin an Kraft verliert: Das mag die bürgerlichen Parteien frohlocken lassen. Doch für die Schweiz kann dies nur eines bedeuten: Die Schere zwischen den Mächtigen und Vermögenden einerseits und der Mehrheit der Menschen andererseits wird immer grösser. Und dies ausgerechnet am Vorabend einer womöglich schweren Wirtschaftskrise.
Walter Langenegger