
Serbien ist ein Land, das nur ein Steinwurf von den alten westeuropäischen Ländern entfernt ist und dessen Menschen uns so vertraut erscheinen, weil sie eigentlich sind wie wir. Kaum etwas unterscheidet sie in besonderem Masse von uns. Gleichwohl ist uns dieses Land so fremd, als läge es auf einem anderen Kontinent.
Mai 2024. Es ist ein Land, das sich mit seiner übersteigerten Glorifizierung des mittelalterlichen Kampfs gegen die Osmanen, seinem aus der Zeit gefallenen Panslawismus, seinem Wiederaufleben der Orthodoxie, seiner gewalttätigen Anmassung gegenüber seinen Brudervölkern auf dem Balkan und seiner Empfänglichkeit für alles Autoritäre in eine Zeitschleife hineinmanövriert hat – eine Zeitschleife, die eine eigene Logik und Realität schafft. Und eine Zeitschleife, die es heute einer faschistoiden und nationalistischen Oberschicht unter Präsident Vucic’ Führung erlaubt, sich einen ganzen Staat als Beute zu nehmen, die Bevölkerung mit mafiösen Strukturen und Methoden zu beherrschen und Serbien zu einem Hochsicherheitsrisiko für Europa zu machen.

Fast scheint es so, als ob die Geschichte mit dem jetzigen autokratischen Serbien jenes Schicksal bekräftigen will, das sie schon vor zweitausend Jahren für die Pannonische Tiefebene ausgewählt hat: das Schicksal der fortwährenden politischen, gesellschaftlichen und religiösen Verwerfungen. Denn das ist es, was diesen Landstrich seit Jahrhunderten widerfährt. Zwar waren auch andere Gebiete Europas immer wieder Opfer von Verheerung und Verwüstung. Doch für das, was heute als serbisch gilt, scheinen Zerstörung, Entwurzelung und Unrecht eine Art ewige Konstante zu sein.
Von den Stämmen der Völkerwanderung über Reitervölker aus dem Osten, über Byzanz bis hin zum Osmanischen Reich und zum Habsburgerreich: Immer wieder stritten sich Mächte um diese weite, fruchtbare Ebene; immer wieder wurde sie neu besiedelt und urbar gemacht, um bald erneut erobert, geschleift und entvölkert zu werden. Besiedlung und Vertreibung, ein nicht enden wollender Kreislauf, bis hin zum Jugoslawienkrieg. Nichts scheint Bestand zu haben – ausser der Donau, deren Erhabenheit sondergleichen sucht und selbst dem Strom der Zeit unbeeindruckt trotzt.

Und so empfängt Serbien auch den Fremden, wenn er von Norden her einreist. Noch auf der Autobahn in Kroatien erinnert erst die Ausfahrt nach Banja Luka an die von Serben verübten Massaker in Bosnien, und dann jene nach Vukovar an die Zerstörung der Stadt 1991 durch die serbische Armee. Das lässt die Anspannung beim Grenzübergang Batrovci spürbar werden: erst die kroatische Passkontrolle, dann die serbische, bei der Pass, Auto und Autopapiere kontrolliert werden sowie eine kurze Befragung erfolgt.
Das freilich lässt die Fahrt durch das Land nach der Grenze zwischen Save und Donau rasch vergessen: Fruchtbare Felder, soweit das Auge reicht, weitgehend unbebaut, durchzogen zuweilen von sanften Hügelzügen; in den Siedlungen und Städten ein gewisser Wohlstand mit Gewerbe und Industrie — was davon zeugt, dass Serbiens Wirtschaft robuster ist als man meinen könnte. Und die Menschen sind freundlich. Normalität, solange es ums Alltägliche geht, vergleichbar mit jedem anderen Land.

Doch Normalität ist relativ. Zum Beispiel in Novi Sad, zweitgrösste Stadt in Serbien. In den letzten 150 Jahren veränderte sich die Bevölkerungsstruktur tiefgreifend. War sie einst wie die K.u.K‑Monarchie eine Vielvölker-Stadt, wird sie heute vorwiegend von Serben bewohnt. Zwei Bauten symbolisieren die geschichtlichen Verwerfungen in dieser Zeitspanne: die habsburgische Festung von Petrovaradin am rechten Ufer der Donau und die neue Freiheitsbrücke über den Strom. Die Festung war ein Bollwerk gegen die Osmanen, während die Brücke das Ziel der Nato-Bomben im Kosovo-Krieg war und später mit Geldern des Westens wieder aufgebaut wurde.


Die Bomben haben Serbien zwar gestoppt, nicht aber dessen nationalistischen Ungeist. Er ist präsent. Zum Beispiel in Form überdimensionierter Wahlplakate von Vucic. Sie sind überall, andere gibt es nicht. Oder zum Beispiel in Form der serbisch-kyrillischen Schrift. Sie breitet sich aus, obwohl sie in dieser Gegend einst kaum heimisch war. Nun dient sie im öffentlichen Raum als Abgrenzung zum Westen und Hinwendung zu Russland sowie als Instrument des serbischen Nationalismus.


Es gibt Menschen, die diese bedrohliche Entwicklung mit grosser Sorge verfolgen, gerade in den Städten, die progressiver eingestellt sind als die Landbevölkerung. Aber hinter der Normalität verbirgt sich auch Angst. Das Regime ist gewalttätig. Das bewies es 2003 auf brutale Weise mit der Ermordung des demokratischen Präsidenten Zoran Dindic. Opposition ist gefährlich. Man kann nicht nur seinen Job verlieren, sondern auch sein Leben. Das treibt viele ins Private und in die innere Emigration. So sitzt Vucic fester denn je im Sattel. Die Opposition zerstört, die Medien unter Kontrolle, die Rechtstaatlichkeit inexistent.
Was das bedeutet, zeigt sich in der Hauptstadt Belgrad, wo das autokratische Regime den alten Stadtteil Savamala abreissen liess, um ein drei Milliarden Euro schweres, aus Abu Dhabi finanziertes Luxusprojekt mit einer Million Quadratmeter Wohnraum sowie 750’000 Quadratmetern Geschäftsräumen zu finanzieren. Die betroffene Bevölkerung wehrte sich erbittert gegen die Belgrade Waterfront, jedoch ohne Erfolg. Letztlich vertrieben vermummte Schlägertrupps die letzten Bewohner aus dem Quartier und rissen Gebäude ab. Ermittlungen dazu gab es nie.


Das Verschwinden dessen, was die Pannonische Tiefebene lange ausmachte, erfolgt allerdings nicht nur mit Gewalt und Druck, sondern zuweilen still und schleichend. Zum Beispiel in Bela Crkva, dem einstigen Weisskirchen, ganz im Westen der Vojvodina an der Grenze zu Rumänien und nahe den Karpaten. Hier siedelten sich vor 300 Jahren Hunderte von Familien aus dem Schwarzwald an. Sie waren dem Ruf der Kaiserin Maria Theresia gefolgt, die ihren Anspruch auf die nach den Türkenkriegen entvölkerten Gebiete mit Siedlern festigen wollte. Daraus entstand wie an vielen anderen Orten ein lange Zeit florierendes deutsches Städtchen. Heute freilich sind es nur noch ganz wenige, die ihre deutsche Kultur leben – und sie werden wohl die letzten sein. Aber immerhin: Im Herbst dieses Jahres feiert der vor 150 Jahren gegründete Jagdverein sein Jubiläum. Dann wird nochmals zurückgeblickt. Auch das ist Serbien.