Eigentlich hätte die BVG-Revision in dieser Form nie dem Volk vorgelegt werden dürfen. Sie ist erstens obsolet, weil die Pensionskassen seit dem Ende der Niedrigzinsphase gut aufgestellt und flächendeckende Sanierungen unnötig sind. Zweitens ist sie ein reiner Rentenabbau, nachdem das Parlament den gut austarierten Sozialpartner-Kompromiss verworfen hat. Unter dem Strich gibt es zu viele Verliererinnen und Verlierer, darunter vor allem die Mittelschicht.
September 2024. Nein, es stimmt nicht, dass diese Reform vor allem wegen der steigenden Lebenserwartung und mit dem Ziel lanciert wurde, Frauen und Geringverdienende besserzustellen. Das ist Ablenkung. Hauptgrund war vielmehr, dass mit der Finanzkrise 2008 die Zinsen stark sanken und viele Pensionskassen Schwierigkeiten hatten, ausreichend Rendite zu erwirtschaften, vor allem während der historisch einmaligen Negativzinsphase ab 2014.
Pensionskassen in guter Verfassung
Doch Tatsache ist: Heute sieht die Situation ganz anders aus. Die Zeiten der Negativzinsen sind vorbei, und zwei Jahre nach der Zinswende stehen die meisten Pensionskassen wieder hervorragend da. Mit einem Gesamtkapital von 1’300 Milliarden Franken und reichlich gefüllten Reservetöpfen sind sie gut gerüstet für kommende Herausforderungen. Das sagen nicht die Gegner der Vorlage; das sagt die Oberaufsichtskommission der Beruflichen Vorsorge (OAK).
Die OAK belegt dies mit Zahlen: 93 Prozent der Vorsorgeeinrichtungen weisen einen Deckungsgrad von mindestens 100 Prozent aus. Im Schnitt sind es sogar 113 Prozent. Die vielkritisierte Querfinanzierung von Jung zu Alt findet nicht mehr statt; seit 2020 läuft sie sogar in die andere Richtung – von Alt zu Jung. Heute profitieren die aktiven Versicherten von den Überschüssen, die mit dem Kapital der über 50-Jährigen erwirtschaftet werden – allein 2023 wurden 300 Millionen von Alt zu Jung umverteilt, Tendenz steigend.
Satz indirekt bereits gekürzt
Das macht klar: Der Umwandlungssatz von 6,8 Prozent im Obligatorium, der die Rentenhöhe bestimmt, ist weiterhin problemlos finanzierbar. Dies gilt erst recht angesichts dessen, dass er von vielen Vorsorgeeinrichtungen indirekt bereits gesenkt worden ist. Denn seit der Finanzkrise haben die meisten Pensionskassen Sanierungen durchgeführt und dabei den Umwandlungssatz im Überobligatorium stärker herabgesetzt, als es nötig war. So beträgt er heute bei den Männerrenten im Schnitt nur noch 5,3 Prozent. Damit nahmen die Kassen die Senkung des Umwandlungssatzes im Obligatorium vorweg. Ihn nun wie gefordert um 0,8 Prozent zu kürzen, heisst de facto, ihn ein zweites Mal zulasten der Versicherten zu reduzieren.
Keine soziale Abfederung
Das ist umso stossender, als die vorliegende Reform nunmehr eine reine Rentenabbau-Übung ist. Der ursprüngliche, vom Bundesrat übernommene Sozialpartner-Kompromiss sah noch vor, die Rentenkürzungen mit einem solidarisch finanzierten Zuschlag von 0,5 Prozent auf alle Löhne bis 850‘000 Franken auszugleichen – eine faire Lösung, die kaum Verliererinnen und Verlierer hinterlassen hätte. Doch das bürgerliche Parlament – irregeleitet durch die Finanzlobby – glaubte, es besser zu wissen, verwarf den Kompromiss und damit eine sozial gerechte Abfederung.
Kürzung von über zwei Milliarden
Die Konsequenz davon ist, dass nun die 4,5 Millionen Beschäftigten auf breiter Front gezwungen werden sollen, mittels Lohn- und Rentenkürzungen jährlich über zwei Milliarden Franken einzusparen und diese in die heute schon vollen Reservetöpfe der Pensionskassen umzuleiten. Die Leidtragenden sind dabei vor allem die über 45-Jährigen mit mittleren Löhnen ab 65‘000 Franken. Sie müssen mit höheren Beiträgen, geringeren Renten oder beidem rechnen. Im schlimmsten Fall steigen die monatlichen Abzüge laut Gewerkschaftsbund (SGB) um bis zu 200 Franken, und die Renten sinken um bis zu 270 Franken.
Daran ändern auch die Rentenzuschläge für die fünfzehn Neurentner-Jahrgänge wenig. Diese sind gering und nur für sehr tiefe Renten gedacht. Nur ein Viertel der Versicherten mit einem kleinen Guthaben von maximal 220’000 Franken erhält den vollen Zuschlag von 100 bis 200 Franken pro Monat. Ein weiteres Viertel mit maximal 440‘000 Franken Sparkapital bekommt lediglich einen Teilzuschlag, im schlechtesten Fall bloss ein paar Franken. Alle anderen gehen leer aus.
Ungenügende Besserstellung
Gleichzeitig sind die Verbesserungen für Frauen, Niedrigverdienende, Teilzeit-Arbeitende und für Personen mit Berufsunterbrüchen minimal. Zwar erhalten laut Bundesrat neu rund 70‘000 Personen Zugang zum BVG-Obligatorium und weitere 30‘000 Personen leicht höhere Renten. Doch gibt es ein Aber: Viele Menschen im Tieflohnsektor verdienen so wenig, dass sie trotz der neuen BVG-Rente im Alter weiterhin Ergänzungsleistungen benötigen. Das heisst: Sie zahlen künftig mehr Lohnbeiträge, haben im Alter aber nicht mehr Geld als heute.
Schleichender Kaufkraftverlust
Hinzu kommt, dass die Revision zwei gravierende Konstruktionsfehler nicht anpackt: der fehlende obligatorische Teuerungsausgleich und die viel zu hohen Vermögensverwaltungskosten. Nur 14 Prozent der Kassen haben laut SGB bisher die Inflation ausgeglichen. Damit erleiden die Pensionierten nunmehr seit Jahren Kaufkraftverluste. In der Vermögensverwaltung wiederum versickern jährlich 8,2 Milliarden. Diese Kosten steigen weiter an, wenn mit der Revision noch mehr Reserven geäufnet werden. Die einzige Gewinnerin: die Finanzbranche.
Zurück an den Absender
Unter dem Strich wird klar: Diese Reform steht schief in der Landschaft und verursacht mehr Schaden als Nutzen. Sie bringt nur eine ungenügende Besserstellung im Tieflohnbereich, belastet ohne Not vor allem die Versicherten mit normalen Löhnen in der Mittelschicht und tut nichts gegen den Kaufkraftverlust der Pensionierten und das Abkassieren der Finanzbranche. Darum gehört diese Reform zurück an den Absender!