BVG21: Schief und schädlich

Eigent­lich hät­te die BVG-Revi­si­on in die­ser Form nie dem Volk vor­ge­legt wer­den dür­fen. Sie ist erstens obso­let, weil die Pen­si­ons­kas­sen seit dem Ende der Nied­rig­zins­pha­se gut auf­ge­stellt und flä­chen­decken­de Sanie­run­gen unnö­tig sind. Zwei­tens ist sie ein rei­ner Ren­ten­ab­bau, nach­dem das Par­la­ment den gut aus­ta­rier­ten Sozi­al­part­ner-Kom­pro­miss ver­wor­fen hat. Unter dem Strich gibt es zu vie­le Ver­lie­re­rin­nen und Ver­lie­rer, dar­un­ter vor allem die Mittelschicht.

Sep­tem­ber 2024. Nein, es stimmt nicht, dass die­se Reform vor allem wegen der stei­gen­den Lebens­er­war­tung und mit dem Ziel lan­ciert wur­de, Frau­en und Gering­ver­die­nen­de bes­ser­zu­stel­len. Das ist Ablen­kung. Haupt­grund war viel­mehr, dass mit der Finanz­kri­se 2008 die Zin­sen stark san­ken und vie­le Pen­si­ons­kas­sen Schwie­rig­kei­ten hat­ten, aus­rei­chend Ren­di­te zu erwirt­schaf­ten, vor allem wäh­rend der histo­risch ein­ma­li­gen Nega­tiv­zins­pha­se ab 2014.

Pen­si­ons­kas­sen in guter Verfassung

Doch Tat­sa­che ist: Heu­te sieht die Situa­ti­on ganz anders aus. Die Zei­ten der Nega­tiv­zin­sen sind vor­bei, und zwei Jah­re nach der Zins­wen­de ste­hen die mei­sten Pen­si­ons­kas­sen wie­der her­vor­ra­gend da. Mit einem Gesamt­ka­pi­tal von 1’300 Mil­li­ar­den Fran­ken und reich­lich gefüll­ten Reser­ve­töp­fen sind sie gut gerü­stet für kom­men­de Her­aus­for­de­run­gen. Das sagen nicht die Geg­ner der Vor­la­ge; das sagt die Ober­auf­sichts­kom­mis­si­on der Beruf­li­chen Vor­sor­ge (OAK).

Die OAK belegt dies mit Zah­len: 93 Pro­zent der Vor­sor­ge­ein­rich­tun­gen wei­sen einen Deckungs­grad von min­de­stens 100 Pro­zent aus. Im Schnitt sind es sogar 113 Pro­zent. Die viel­kri­ti­sier­te Quer­fi­nan­zie­rung von Jung zu Alt fin­det nicht mehr statt; seit 2020 läuft sie sogar in die ande­re Rich­tung – von Alt zu Jung. Heu­te pro­fi­tie­ren die akti­ven Ver­si­cher­ten von den Über­schüs­sen, die mit dem Kapi­tal der über 50-Jäh­ri­gen erwirt­schaf­tet wer­den – allein 2023 wur­den 300 Mil­lio­nen von Alt zu Jung umver­teilt, Ten­denz steigend.

Satz indi­rekt bereits gekürzt

Das macht klar: Der Umwand­lungs­satz von 6,8 Pro­zent im Obli­ga­to­ri­um, der die Ren­ten­hö­he bestimmt, ist wei­ter­hin pro­blem­los finan­zier­bar. Dies gilt erst recht ange­sichts des­sen, dass er von vie­len Vor­sor­ge­ein­rich­tun­gen indi­rekt bereits gesenkt wor­den ist. Denn seit der Finanz­kri­se haben die mei­sten Pen­si­ons­kas­sen Sanie­run­gen durch­ge­führt und dabei den Umwand­lungs­satz im Über­ob­li­ga­to­ri­um stär­ker her­ab­ge­setzt, als es nötig war. So beträgt er heu­te bei den Män­ner­ren­ten im Schnitt nur noch 5,3 Pro­zent. Damit nah­men die Kas­sen die Sen­kung des Umwand­lungs­sat­zes im Obli­ga­to­ri­um vor­weg. Ihn nun wie gefor­dert um 0,8 Pro­zent zu kür­zen, heisst de fac­to, ihn ein zwei­tes Mal zula­sten der Ver­si­cher­ten zu reduzieren.

Kei­ne sozia­le Abfederung

Das ist umso sto­ssen­der, als die vor­lie­gen­de Reform nun­mehr eine rei­ne Ren­ten­ab­bau-Übung ist. Der ursprüng­li­che, vom Bun­des­rat über­nom­me­ne Sozi­al­part­ner-Kom­pro­miss sah noch vor, die Ren­ten­kür­zun­gen mit einem soli­da­risch finan­zier­ten Zuschlag von 0,5 Pro­zent auf alle Löh­ne bis 850‘000 Fran­ken aus­zu­glei­chen – eine fai­re Lösung, die kaum Ver­lie­re­rin­nen und Ver­lie­rer hin­ter­las­sen hät­te. Doch das bür­ger­li­che Par­la­ment – irre­ge­lei­tet durch die Finanz­lob­by – glaub­te, es bes­ser zu wis­sen, ver­warf den Kom­pro­miss und damit eine sozi­al gerech­te Abfederung.

Kür­zung von über zwei Milliarden

Die Kon­se­quenz davon ist, dass nun die 4,5 Mil­lio­nen Beschäf­tig­ten auf brei­ter Front gezwun­gen wer­den sol­len, mit­tels Lohn- und Ren­ten­kür­zun­gen jähr­lich über zwei Mil­li­ar­den Fran­ken ein­zu­spa­ren und die­se in die heu­te schon vol­len Reser­ve­töp­fe der Pen­si­ons­kas­sen umzu­lei­ten. Die Leid­tra­gen­den sind dabei vor allem die über 45-Jäh­ri­gen mit mitt­le­ren Löh­nen ab 65‘000 Fran­ken. Sie müs­sen mit höhe­ren Bei­trä­gen, gerin­ge­ren Ren­ten oder bei­dem rech­nen. Im schlimm­sten Fall stei­gen die monat­li­chen Abzü­ge laut Gewerk­schafts­bund (SGB) um bis zu 200 Fran­ken, und die Ren­ten sin­ken um bis zu 270 Franken.

Dar­an ändern auch die Ren­ten­zu­schlä­ge für die fünf­zehn Neur­ent­ner-Jahr­gän­ge wenig. Die­se sind gering und nur für sehr tie­fe Ren­ten gedacht. Nur ein Vier­tel der Ver­si­cher­ten mit einem klei­nen Gut­ha­ben von maxi­mal 220’000 Fran­ken erhält den vol­len Zuschlag von 100 bis 200 Fran­ken pro Monat. Ein wei­te­res Vier­tel mit maxi­mal 440‘000 Fran­ken Spar­ka­pi­tal bekommt ledig­lich einen Teil­zu­schlag, im schlech­te­sten Fall bloss ein paar Fran­ken. Alle ande­ren gehen leer aus.

Unge­nü­gen­de Besserstellung

Gleich­zei­tig sind die Ver­bes­se­run­gen für Frau­en, Nied­rig­ver­die­nen­de, Teil­zeit-Arbei­ten­de und für Per­so­nen mit Berufs­un­ter­brü­chen mini­mal. Zwar erhal­ten laut Bun­des­rat neu rund 70‘000 Per­so­nen Zugang zum BVG-Obli­ga­to­ri­um und wei­te­re 30‘000 Per­so­nen leicht höhe­re Ren­ten. Doch gibt es ein Aber: Vie­le Men­schen im Tief­lohn­sek­tor ver­die­nen so wenig, dass sie trotz der neu­en BVG-Ren­te im Alter wei­ter­hin Ergän­zungs­lei­stun­gen benö­ti­gen. Das heisst: Sie zah­len künf­tig mehr Lohn­bei­trä­ge, haben im Alter aber nicht mehr Geld als heute.

Schlei­chen­der Kaufkraftverlust

Hin­zu kommt, dass die Revi­si­on zwei gra­vie­ren­de Kon­struk­ti­ons­feh­ler nicht anpackt: der feh­len­de obli­ga­to­ri­sche Teue­rungs­aus­gleich und die viel zu hohen Ver­mö­gens­ver­wal­tungs­ko­sten. Nur 14 Pro­zent der Kas­sen haben laut SGB bis­her die Infla­ti­on aus­ge­gli­chen. Damit erlei­den die Pen­sio­nier­ten nun­mehr seit Jah­ren Kauf­kraft­ver­lu­ste. In der Ver­mö­gens­ver­wal­tung wie­der­um ver­sickern jähr­lich 8,2 Mil­li­ar­den. Die­se Kosten stei­gen wei­ter an, wenn mit der Revi­si­on noch mehr Reser­ven geäuf­net wer­den. Die ein­zi­ge Gewin­ne­rin: die Finanzbranche.

Zurück an den Absender

Unter dem Strich wird klar: Die­se Reform steht schief in der Land­schaft und ver­ur­sacht mehr Scha­den als Nut­zen. Sie bringt nur eine unge­nü­gen­de Bes­ser­stel­lung im Tief­lohn­be­reich, bela­stet ohne Not vor allem die Ver­si­cher­ten mit nor­ma­len Löh­nen in der Mit­tel­schicht und tut nichts gegen den Kauf­kraft­ver­lust der Pen­sio­nier­ten und das Abkas­sie­ren der Finanz­bran­che. Dar­um gehört die­se Reform zurück an den Absender!

 

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