Nagt die Schweiz am Hungertuch? Das könnte man fast glauben, wenn man die ständigen Warnungen der bürgerlichen Mehrheit vor einem finanziellen Kollaps hört. Doch diese Obsession hat System: Sie dient der Rechtfertigung einer restriktiven Finanzpolitik, die den Vermögenden und Unternehmen nützt, während sie den niedrigen und mittleren Einkommen schadet. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Schuldenbremse: Sie nimmt Staat und Gemeinwohl in den Würgegriff.
Der demokratische, soziale Rechts- und Dienstleistungsstaat ist gleichsam der Schutzverband der Mehrheit der Bevölkerung gegen die Willkür und Macht der wenigen Starken und Reichen. Er entstand im Wesentlichen nach 1945, als es nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs darum ging, Westeuropa wieder aufzubauen. Damals übernahm der demokratische Staat umfassende Aufgaben in allen Lebensbereichen und sorgte auf der Grundlage von keynesianischer Wirtschaftspolitik und grossen Staatsunternehmen lange Zeit für Vollbeschäftigung und Wohlfahrt.
Wohlfahrt schafft Mittelschicht
Kernstück dabei war, dass der Staat die Vermögenden und Reichen sowie Konzerne und Unternehmen – also die Starken in der Gesellschaft – in die Pflicht nahm und sie mit progressiven Steuern und Spitzensätzen bis zu 70 Prozent zur Mitfinanzierung der öffentlichen Aufgaben heranzog. Dies ermöglichte den Aufbau von Gemeinwesen, die dank einer gut ausgebauten staatlichen Infrastruktur, einem starken öffentlichen Dienstleistungssektor und tragfähigen Sozialversicherungen eine gerechte Verteilung von Wohlstand gewährleistete. Der Staat wurde zum Garanten des Gemeinwohls und schuf damit überhaupt erst die Voraussetzung für das Entstehen einer breiten Mittelschicht.
Doch dieser Wohlfahrtsstaat befindet sich seit Jahrzehnten im Dauerstress. Der Gegner heisst Neoliberalismus – die Ideologie der wirtschaftlich Mächtigen und Superreichen. Sie brauchen keinen starken demokratischen Staat, empfinden ihn vielmehr als hinderlich und störend für ihre eigenen Interessen und treiben daher dessen Abbau voran. Je schwächer der Staat, desto mächtiger werden sie – und desto mehr leidet die Mittelschicht. Der Abbau des Wohlfahrts- und Verteilungsstaates ist daher immer ein Akt gegen die Mehrheit – auch wenn diese Mehrheit es nur selten realisiert.
Gift für das Gemeinwohl
Staatsabbau funktioniert nicht nur durch Privatisierungen und Deregulierungen, sondern ebenso durch eine restriktive Finanzpolitik, die auf Steuersenkungen setzt, welche dem Gemeinwesen Mittel entziehen und es zum Sparen zwingen. In der Schweiz lancierte die FDP diese Politik in den 90er-Jahren mit dem Slogan „Weniger Staat, mehr Freiheit“. Seither dominiert eine absurde Debatte: Noch nie war die Schweiz so reich wie heute – und noch nie wurde so schrill vor einem finanziellen Zusammenbruch gewarnt (siehe Grafik unten zu Eigenkapital).
Ein Beispiel dafür ist das jüngste Sparpaket der FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter, bei dem einmal mehr der Teufel an die Wand gemalt wird. Die Stossrichtung ist eindeutig: Nicht die Reichen und Mächtigen sollen durch höhere Steuern die drohenden Defizite und die zusätzlichen Verteidigungsausgaben finanzieren, sondern die breite Bevölkerung durch Sparmassnahmen in Bereichen, die sie direkt betreffen: etwa bei der AHV, den Kita-Subventionen und im öffentlichen Verkehr.
Die finanzpolitische Panikmache zeigte früh Wirkung. 2001 wurde mit 85 Prozent Ja-Stimmen ein klassisches neoliberales Instrument eingeführt: die Schuldenbremse. Ihr Name klingt gut – wer will schon Schulden machen? Doch was moralisch erhaben wirkt, ist Gift für das Gemeinwohl. Die Schuldenbremse verhindert nicht nur eine sinnvolle Umverteilung von oben nach unten, sondern macht sie teilweise sogar rückgängig. In der gesamten OECD gehört die Schweiz heute zu den Staaten, die am wenigsten umverteilen. Das Ergebnis ist enorme Ungleichheit: Die obersten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen rund 3‘500 Milliarden Franken – das sind 75 Prozent des gesamten Privatvermögens der Schweiz.
Knappe Kasse bei gesunden Finanzen
Das Tückische an der Schuldenbremse ist, dass sich die Ausgaben des Staates stets nach den Einnahmen richten – und nicht nach dem, was sinnvoll oder notwendig ist. Es wird also nicht gefragt, was den Menschen nützen würde, sondern nur, wie viel Geld zur Verfügung steht. So kommt es, dass in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt, fast nur noch über den Verzicht und das Sparen verhandelt wird. Die bürgerliche Mehrheit sorgt dabei regelmässig dafür, dass vor allem die sozial- und verteilungspolitischen Anliegen kaum Chancen haben.
Zusätzlich verschärft wird die Politik der knappen Kassen durch die Vorgabe der Schuldenbremse, wonach nicht verwendetes Budgetgeld am Jahresende in die Schuldentilgung fliessen muss. Seit 2002 sind dem Bund auf diese Weise über weite über 20 Milliarden Franken an bereits zugesprochenen Mitteln entgangen (siehe Grafik unten zu nicht ausgeschöpfte Mittel). Zudem nutzen die Bürgerlichen diese Kreditreste als Argument für Steuersenkungen – natürlich für die hohen Einkommen, die Wohlhabenden und die Unternehmen. So entsteht ein Teufelskreis aus Schuldenabbau, Steuersenkungen und Sparmassnahmen, bei dem die Verteilungsgerechtigkeit auf der Strecke bleibt.
Diese Politik hat nichts mit echter Sorge um das Land zu tun. Die Schweiz verfügt über sehr gesunde Staatsfinanzen. Ihre Verschuldungsquote ist äusserst niedrig. Sie beträgt laut Internationalem Währungsfonds etwa 16 Prozent. Zum Vergleich: Im Euroraum liegt sie bei 75 Prozent, in den USA bei 100 Prozent. Auch die Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden haben nicht zugenommen, wie oft behauptet wird. Sie liegen heute bei 32,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts und sind damit genauso niedrig wie vor 30 Jahren – und 10 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt.
Subventionierung der Reichen
Wir leben also nicht „über unsere Verhältnisse“. Im Gegenteil: Hohe Einkommen und Vermögen sowie grosse Unternehmen profitieren massiv von Steuererleichterungen. Diese Kreise zahlen heute Milliarden weniger Steuern als noch in den 1990er-Jahren. Eine Studie der Eidgenössischen Finanzverwaltung stellte 2011 fest, dass Steuervergünstigungen allein auf Bundesebene jährlich rund 20 Milliarden Franken kosten. Heute dürfte diese Summe auf rund 30 Milliarden angewachsen sein. Die niedrigen Einkommen und die Mittelschicht merken davon jedoch nichts: Sie zahlen etwa gleich viel Steuern wie vor 30 Jahren.
Diese Milliarden fehlen dem Staat heute. Die staatliche Infrastruktur schwächelt, der öffentliche Dienstleistungssektor leidet, und der Sozialstaat steht unter Druck. Fehlende Investitionen machen beispielsweise den Bahnverkehr immer anfälliger für Störungen und Verspätungen. Sparmassnahmen in der Volksschule und im Gesundheitswesen führen zu Personalmangel und Qualitätseinbussen. Weil die bürgerliche Mehrheit wenig Interesse am sozialen Ausgleich zeigt, zahlen Eltern zu viel für Kitas und Arbeitnehmende im mittleren Alter müssen um ihre Renten fürchten. All das belastet die Haushalte der breiten Bevölkerung zusätzlich – vor allem angesichts stagnierender Löhne, steigender Mieten, hoher Krankenkassenprämien und Kaufkraftverlust.
Ideologie statt Vernunft
Das Fazit zur Schuldenbremse ist deshalb traurig: Dieses Lieblingsprojekt der Neoliberalen hat die Ungleichheit in der Schweiz verschärft, die Reichen reicher und die breite Bevölkerung – insbesondere die untere Mittelschicht – ärmer gemacht. Sie ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Ob die bürgerliche Mehrheit dies erkennt, ist indes mehr als fraglich. Zwar haben das Ja zur 13. AHV-Rente und das Nein zum BVG-Rentenabbau deutliche Signale gesetzt. Doch die Erfahrung zeigt, dass sich die bürgerliche Politik erst bewegt, wenn es keine andere Wahl mehr gibt. Für das Gemeinwohl verheisst das nichts Gutes.
Foto: SGB
Quellen: Die Zahlen in diesem Beitrag basieren im Wesentlichen auf den Verteilungsbericht 2024 des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, dem Analysepapier zur Kaufkraft 2023 von Nationalrätin Samira Marti, der wirtschaftspolitischen Analyse von Yves Wegelin in der „Republik“ vom 23.9.2024 und dem Positionspapier der SP Schweiz zur Schuldenbremse zuhanden des Parteitags vom Oktober 2024.