Die Mecha­nik der Ungleichheit

Die Ungleich­heit in der Schweiz ist nicht gott­ge­ge­ben, son­dern von einer bestimm­ten, meist bür­ger­li­chen Poli­tik gemacht. Das Muster ist stets das­sel­be: Fast jede Reform in zen­tra­len Poli­tik­be­rei­chen führt dazu, dass die Ober­schicht auf Kosten der Mit­tel­schicht noch wohl­ha­ben­der wird. Wie dies im Ein­zel­nen geschieht, zeigt sich aktu­ell an ver­schie­de­nen Vor­la­gen, von der Indi­vi­du­al­be­steue­rung über das bun­des­rät­li­che Spar­pa­ket bis hin zur EFAS-Abstimmung. 

Okto­ber 2024. Die Unter­schie­de bei Ver­mö­gen und Ein­kom­men sind enorm. Die ober­sten zehn Pro­zent der Bevöl­ke­rung ver­ei­nen rund 35 bis 40 Pro­zent der gesam­ten Lohn­sum­me auf sich und kon­trol­lie­ren über 75 Pro­zent der gesam­ten Pri­vat­ver­mö­gen. Dies bele­gen regel­mä­ssig Zah­len des Gewerk­schafts­bun­des SGB und des Bun­des­am­tes für Statistik.

Die­se Ungleich­heit ist kein Zufall, son­dern das Ergeb­nis einer jahr­zehn­te­lan­gen, bür­ger­lich domi­nier­ten Mehr­heits­po­li­tik. Sie ergibt sich aus einer sich fort­set­zen­den Rei­he von Refor­men in der Steuer‑, Finanz‑, Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik, deren Fol­gen für die Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung oft unter­schätzt oder bewusst ver­schlei­ert wird.

Steu­er­sen­kun­gen machen ungleich

Ein Bei­spiel dafür ist die Indi­vi­du­al­be­steue­rung, die das Par­la­ment der­zeit berät. Sie wird als gesell­schafts­po­li­ti­sche Reform prä­sen­tiert, da sie die steu­er­li­che Gleich­stel­lung von Mann und Frau vor­an­brin­gen soll. Dar­um wird hef­tig über Rol­len­bil­der gestritten.

Dabei droht jedoch eine wich­ti­ge Tat­sa­che unter­zu­ge­hen: Es han­delt sich um eine Steu­er­sen­kung im Umfang von einer Mil­li­ar­de, von der in erster Linie Dop­pel­ver­die­ner-Paa­re mit hohen Ein­kom­men über 120‘000 Fran­ken pro­fi­tie­ren. Weil die Indi­vi­du­al­be­steue­rung die Pro­gres­si­on bricht, spa­ren die­se rei­chen Paa­re Zehn­tau­sen­de Franken.

Dies im Gegen­satz zu Paa­ren mit tie­fen und mitt­le­ren Ein­kom­men: Ihnen bringt die Steu­er­re­form in Fran­ken und Rap­pen kaum etwas.

Kür­zun­gen tref­fen Normalverdienende

Ein ande­res Bei­spiel ist das jüng­ste Spar­pa­ket, mit dem Finanz­mi­ni­ste­rin Kel­ler-Sut­ter trotz inter­na­tio­nal rekord­tie­fer Ver­schul­dung und sta­bi­ler Staats­aus­ga­ben einen Not­stand sug­ge­riert. Ein geplan­ter Punkt ist, den Bun­des­bei­trag von zwölf Mil­li­ar­den an die AHV zu kür­zen, und zwar um meh­re­re hun­dert Millionen.

Wich­tig zu wis­sen: Der Bun­des­bei­trag wird kal­ku­la­to­risch zur Hälf­te von der Bun­des­steu­er finan­ziert – also von jener Steu­er, die wegen der Pro­gres­si­on vor allem von den hohen Ein­kom­men bezahlt wird. Je tie­fer der Bun­des­bei­trag an die AHV ist, desto leich­ter ist es, For­de­run­gen der poli­ti­schen Lin­ken nach einer Erhö­hung die­ser Rei­chen­steu­er abzu­weh­ren. Zudem gehen die AHV-Reser­ven rascher zur Nei­ge. Das wie­der­um erhöht den Druck, Ren­ten zu kür­zen und das Ren­ten­al­ter anzu­he­ben – Mass­nah­men also, die vor allem die Mit­tel­schicht treffen.

Auch die im Spar­pa­ket vor­ge­se­he­ne Kür­zung der Kita-Zuschüs­se von 800 Mil­lio­nen Fran­ken folgt die­ser Logik. Die­se wer­den eben­falls durch die Bun­des­steu­er mit­fi­nan­ziert. Die Kan­to­ne dürf­ten kaum in die Lücke sprin­gen, zumal vie­le von ihnen – dar­un­ter die bei­den Basel, St. Gal­len, Zug, Schaff­hau­sen, Genf und Waadt – jüngst bereits wie­der die pro­gres­si­ven Ein­kom­mens­steu­ern gesenkt haben oder dies planen.

Die Fol­ge sind höhe­re Kita-Kosten für die Eltern. Das trifft jene mit nied­ri­gen und mitt­le­ren Löh­nen. Dies gilt umso mehr, als ihnen tie­fe­re Kan­tons­steu­ern kaum Erspar­nis­se brin­gen. Anders die wohl­ha­ben­den Fami­li­en: Sie kön­nen höhe­re Kita-Kosten durch spür­ba­re Steu­er­sen­kun­gen kompensieren.

Spa­ren heisst mehr zahlen

Ungleich­heit durch Kosten­ab­wäl­zung fin­det auch im Gesund­heits­we­sen statt. So for­der­te der Stän­de­rat in der Herbst­ses­si­on eine Erhö­hung der Fran­chise von 300 auf 500 Fran­ken und impli­ziert damit, die Ver­si­cher­ten sei­en schuld an der Kosten­spi­ra­le. Setzt er sich mit die­sem Ablen­kungs­ma­nö­ver durch, kostet dies die Ver­si­cher­ten laut einer Hels­a­na-Stu­die rund 1,2 Mil­li­ar­den Franken.

Für hohe Ein­kom­men ist eine höhe­re Fran­chise kaum spür­bar. Sie pro­fi­tie­ren ohne­hin von einer ver­gleichs­wei­se gün­sti­gen Gesund­heits­ver­sor­gung, weil die Prä­mi­en nicht ein­kom­mens­ab­hän­gig sind. Doch für jene 44 Pro­zent der Bevöl­ke­rung mit nor­ma­lem Lohn und Min­dest­fran­chise sowie für chro­nisch Kran­ke bedeu­ten 200 Fran­ken für eine höhe­re Fran­chise eine erheb­li­che Belastung.

Kopf­steu­ern ver­schär­fen Ungleichheit

Auch Kopf­steu­ern wie die Mehr­wert­steu­er ver­stär­ken die Ungleich­heit. Die­se Rich­tung schlägt der Bun­des­rat bei der 13. AHV-Ren­te ein. Statt sie auf sozia­le Wei­se über Lohn­pro­zen­te oder Bun­des­zu­schüs­se zu finan­zie­ren, will er die Mehr­wert­steu­er erhö­hen und argu­men­tiert, dies sei gerecht, da alle zahlten.

Doch in Wirk­lich­keit trifft eine höhe­re Besteue­rung des täg­li­chen Kon­sums die brei­te Bevöl­ke­rung viel stär­ker als die Ober­schicht. Damit zwingt die Lan­des­re­gie­rung die Men­schen mit nor­ma­len Löh­nen, die Kosten für die zusätz­li­che Ren­te de fac­to selbst zu tra­gen, und sorgt gleich­zei­tig dafür, dass sich die höhe­ren Ein­kom­men nicht soli­da­risch an der Mit­fi­nan­zie­rung der 13. AHV-Ren­te betei­li­gen müssen.

Eine Ent­la­stung der Ober- zula­sten der Mit­tel­schicht droht auch mit der Ver­ein­heit­li­chung der Finan­zie­rung im Gesund­heits­we­sen (EFAS), über die wir im Novem­ber abstim­men. Zwar sol­len sich die Kan­to­ne mit Steu­er­gel­dern neu auch am ambu­lan­ten Bereich betei­li­gen. Doch die über­durch­schnitt­lich stark stei­gen­den Kosten der Lang­zeit­pfle­ge dürf­ten dazu füh­ren, dass die Prä­mi­en­zah­len­den eine immer grö­sse­re Last tra­gen. Denn die Kran­ken­kas­sen müs­sen bis zu 73 Pro­zent der Pfle­ge­ko­sten über­neh­men, die steu­er­fi­nan­zier­ten Kan­to­ne neu nur 27 Pro­zent. Die Kosten der Lang­zeit­pfle­ge wer­den beson­ders stark zuneh­men, weil der Anteil der Betag­ten in der Gesell­schaft steigt. 

Umver­tei­lung nach oben

Alle die­se System­än­de­run­gen haben tief­grei­fen­de Fol­gen für die Steu­er­struk­tur. Wäh­rend die Ein­kom­mens­steu­ern, die haupt­säch­lich hohe Ein­kom­men bela­sten, seit 30 Jah­ren sin­ken, sind die Kopf­steu­ern wie Kon­sum­steu­er und Prä­mi­en, die die Kauf­kraft der brei­ten Bevöl­ke­rung schmä­lern, mas­siv gestiegen.

Der SGB hat berech­net, dass eine allein­ste­hen­de Per­son mit einem Ein­kom­men von einer Mil­li­on heu­te im Schnitt über 30’000 Fran­ken weni­ger Steu­ern zahlt als im Jahr 2000, wäh­rend es bei einer allein­ste­hen­den Per­son mit 75‘000 Fran­ken Ein­kom­men nur 125 Fran­ken weni­ger sind. Gleich­zei­tig stieg die Mehr­wert­steu­er von 6,5 auf 8,1 Pro­zent, und die durch­schnitt­li­che Kran­ken­kas­sen­prä­mie erhöh­te sich um 158 Pro­zent von 173 auf 427 Franken.

Die­ser Trend wird sel­ten unter­bro­chen, zuletzt etwa mit der Min­dest­steu­er für Kon­zer­ne, die auf Druck der OECD ein­ge­führt wur­de. Aller­dings pro­fi­tiert die Bevöl­ke­rung kaum davon. Denn das Par­la­ment sorg­te dafür, dass die Steu­er­erträ­ge gröss­ten­teils zurück in die Tief­steu­er-Kan­to­ne flie­ssen. Die­se erstat­ten die Mit­tel den Kon­zer­nen indi­rekt zurück, indem sie ihnen ander­wei­ti­ge Steu­er­ver­gün­sti­gun­gen gewäh­ren sowie Dienst­lei­stungs- und Infra­struk­tur­ko­sten finanzieren.

Poli­tik gegen die Mittelschicht

Ins­ge­samt fin­det damit eine kon­ti­nu­ier­li­che Umver­tei­lung von unten nach oben statt und das Gegen­teil des­sen, was die Bun­des­ver­fas­sung ver­langt, näm­lich eine Besteue­rung nach wirt­schaft­li­cher Lei­stungs­fä­hig­keit. Die Poli­tik lässt zu, dass die wirt­schaft­lich star­ke Ober­schicht sich immer mehr ihrer Pflicht ent­zieht, einen gerech­ten Bei­trag zur Finan­zie­rung der öffent­li­chen Hand zu lei­sten, wäh­rend die Lasten zuneh­mend auf die Schul­tern der Mit­tel­schicht über­bür­det werden.

Heu­te gehört die Schweiz zu den OECD-Staa­ten, die am wenig­sten umver­tei­len – was vor allem den Men­schen mit mitt­le­ren Löh­nen scha­det, die kei­ne Prä­mi­en­ver­bil­li­gun­gen oder ande­re Trans­fer­lei­stun­gen erhalten.

Das ist die Mecha­nik der Ungleich­heit. Es macht die Rei­chen immer rei­cher. Und es gibt kei­nen Hin­weis dar­auf, dass die bür­ger­li­che Mehr­heits­po­li­tik gewillt ist, dies zu ändern.

Autor: Wal­ter Lan­gen­eg­ger
Foto: Noah Wind­ler, Unsplash

Ver­gleich der staat­li­chen Umver­tei­lung: Im Unter­schied zu den ande­ren Län­dern in Euro­pa wirkt die staat­li­che Abga­ben- und Sozi­al­po­li­tik in der Schweiz kaum aus­glei­chend. Haupt­ur­sa­che sind die Kopf­prä­mi­en bei der Kran­ken­kas­se.                                        Quel­le: OECD/​Verteilungsbericht 2024 SGB

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