
WelÂchen Wert hat RechtsÂstaatÂlichÂkeit? FĂĽr die bĂĽrÂgerÂliÂche ParÂlaÂmentsÂmehrÂheit offenÂbar einen gerinÂgen. Auf ihren Druck hin hat der BunÂdesÂrat MitÂte JanuÂar einen GesetÂzesÂentÂwurf vorÂgeÂlegt, mit dem auf verÂfasÂsungsÂwidÂriÂge WeiÂse die kanÂtoÂnaÂlen MinÂdestÂlöhÂne ausÂgeÂheÂbelt werÂden solÂlen. Das ist nicht nur höchst unsoÂziÂal. Der Fall weist auch bedenkÂliÂche ParÂalÂleÂlen zu StaaÂten auf, wo rechÂte MehrÂheiÂten das Gesetz beuÂgen, wie es ihnen geraÂde passt.
JanuÂar 2024. Der VorÂgang ist besorgÂnisÂerÂreÂgend: Die LanÂdesÂreÂgieÂrung gibt eine GesetÂzesÂvorÂlaÂge in die VerÂnehmÂlasÂsung, von der sie selbst schreibt, dass sie gegen mehÂreÂre PrinÂziÂpiÂen der BunÂdesÂverÂfasÂsung verÂstösst und nicht angeÂnomÂmen werÂden darf. KonÂkret sieht der EntÂwurf vor, dass die BestimÂmunÂgen ĂĽber MinÂdestÂlöhÂne und LohnÂvorÂschrifÂten in allÂgeÂmeinÂverÂbindÂlich erklärÂten GesamtÂarÂbeitsÂverÂträÂgen (GAV) kĂĽnfÂtig dem kanÂtoÂnaÂlen Recht vorÂgeÂhen. GeforÂdert hatÂte dies Ende 2022 eine knapÂpe bĂĽrÂgerÂliÂche MehrÂheit in beiÂden Räten aufÂgrund einer MotiÂon des MitÂte-StänÂdeÂraÂtes Erich Ettlin.
Der ObwaldÂner WirtÂschaftsÂlobÂbyÂist verÂgoss dabei im ParÂlaÂment KroÂkoÂdilsÂträÂnen. Er sei in SorÂge um die SoziÂalÂpartÂnerÂschaft. DieÂse mĂĽsÂse vor „umstritÂteÂnen EinÂgrifÂfen“ geschĂĽtzt werÂden. Was er damit meint, sind die gelÂtenÂden MinÂdestÂlöhÂne in den KanÂtoÂnen NeuÂenÂburg, Jura, Genf, TesÂsin und BaselÂstadt sowie die diverÂsen lauÂfenÂden BestreÂbunÂgen in KanÂtoÂnen und StädÂten zur EinÂfĂĽhÂrung gesetzÂliÂcher Lohnvorschriften.
Ein Dorn im Auge
GesetzÂliÂche MinÂdestÂlöhÂne sind der bĂĽrÂgerÂliÂchen MehrÂheit ein Dorn im Auge. Denn sie schwäÂchen die PosiÂtiÂon der ArbeitÂgeÂber bei den GAV-VerÂhandÂlunÂgen gegenÂĂĽber den GewerkÂschafÂten. Ist ein MinÂdestÂlohn gesetzÂlich festÂgeÂsetzt, darf er nicht unterÂschritÂten werÂden. Denn auch wenn ein GAV allÂgeÂmeinÂverÂbindÂlich erklärt wird, so ist er doch kein Gesetz, sonÂdern bleibt ein zwiÂschen priÂvaÂten VerÂbänÂden geschlosÂseÂner VerÂtrag. Und damit ist er dem kanÂtoÂnaÂlen Gesetz unterÂgeÂordÂnet. NorÂmenÂhierÂarÂchie nennt sich das.
Genau dieÂse NorÂmenÂhierÂarÂchie greift EttÂlin an. Er will die kanÂtoÂnaÂlen MinÂdestÂlöhÂne ausÂheÂbeln, indem GAV-MinÂdestÂlöhÂne kĂĽnfÂtig die gesetzÂliÂche MinÂdestÂhöÂhe in jedem Fall unterÂschreiÂten dĂĽrÂfen. Damit wird das kanÂtoÂnaÂle Gesetz zur FarÂce. Und das wieÂderÂum ändert das KräfÂteÂverÂhältÂnis der SoziÂalÂpartÂner selbstÂreÂdend zugunÂsten der Arbeitgeber.
MutÂloÂser Bundesrat
Doch EttÂlins ForÂdeÂrung widerÂspricht der SchweiÂzer RechtsÂordÂnung. DarÂum wehrÂte sich der BunÂdesÂrat schon im ParÂlaÂment gegen die MotiÂon und machÂte deutÂlich: KanÂtoÂnaÂle MinÂdestÂlöhÂne sind per VolksÂentÂscheid demoÂkraÂtisch legiÂtiÂmiert und laut BunÂdesÂgeÂricht expliÂzit verÂfasÂsungsÂkonÂform. Dies nicht zu respekÂtieÂren heisst, kanÂtoÂnaÂle SouÂveÂräÂniÂtät und LegaÂliÂtätsÂprinÂzip zu missachten.
AllerÂdings, den Mut, die AnnahÂme der MotiÂon zu verÂweiÂgern, hatÂte die LanÂdesÂreÂgieÂrung trotz ihrer klaÂren WorÂte dann doch nicht. Statt sich kateÂgoÂrisch auf die SeiÂte der RechtsÂordÂnung zu schlaÂgen, warnt sie nur — und lieÂfert, was von ihr geforÂdert wurÂde. Das ResulÂtat: Damit finÂdet nun de facÂto eine VerÂnehmÂlasÂsung ĂĽber einen offenÂsichtÂliÂchen RechtsÂbruch statt. Gelingt es nicht, das VorÂhaÂben im ParÂlaÂment, mitÂtels RefeÂrenÂdums oder gerichtÂlich zu stopÂpen, so wäre dies ein soziÂalÂpoÂliÂtiÂscher SĂĽnÂdenÂfall und ein AlarmÂsiÂgnal fĂĽr den Rechtsstaat.
Angriff auf Beschäftigte
Was dies soziÂalÂpoÂliÂtisch bedeuÂteÂte, lässt sich am BeiÂspiel Genf illuÂstrieÂren. Der KanÂton hat vor ĂĽber drei JahÂren einen MinÂdestÂlohn von gut 23 FranÂken einÂgeÂfĂĽhrt und damit gute ErfahÂrunÂgen gemacht. In sieÂben TiefÂlohn-BranÂchen – darÂunÂter das CoifÂfeurÂgeÂwerÂbe, das GastÂgeÂwerÂbe oder die TankÂstelÂlenÂshops – verÂbesÂserÂte sich die EinÂkomÂmensÂsiÂtuaÂtiÂon merkÂlich, ohne dass die ArbeitsÂloÂsigÂkeit zunahm (sieÂhe Grafik).

Obsiegt die bĂĽrÂgerÂliÂche MehrÂheit, werÂden dieÂse ErfolÂge zunichÂte gemacht. Nicht nur könnÂten die ArbeitÂgeÂber in den betrofÂfeÂnen KanÂtoÂnen die GewerkÂschafÂten wieÂder stärÂker unter Druck setÂzen und die UnterÂnehÂmen wieÂder LohnÂdumÂping betreiÂben. VielÂmehr unterÂmiÂnierÂte die bĂĽrÂgerÂliÂche MehrÂheit damit auch die ReaÂliÂsieÂrung von gesetzÂliÂchen MinÂdestÂlöhÂnen in andeÂren KanÂtoÂnen und StädÂten und verÂhinÂderÂte von vorÂneÂherÂein eine besÂseÂre EntÂlöhÂnung von ArbeitÂnehÂmenÂden in gewerkÂschaftÂlich schlecht orgaÂniÂsierÂten Tieflohn-Sektoren.
AlarmÂzeiÂchen fĂĽr Rechtsstaat
Ein AlarmÂsiÂgnal fĂĽr den RechtsÂstaat wäre der RechtsÂbruch sodann, weil sich damit ein Trend bestäÂtigÂte, der inzwiÂschen vieÂlerÂorts zu beobÂachÂten ist: Wo rechÂte ParÂteiÂen im VorÂmarsch sind, eroÂdiert die RechtsÂstaatÂlichÂkeit. In Polen und Ungarn degraÂdierÂten die PIS und OrbÂans ParÂtei die Justiz zur VollÂzugsÂgeÂhilÂfin, in den USA verÂpoÂliÂtiÂsierÂte Trump den oberÂsten GerichtsÂhof und in GrossÂbriÂtanÂniÂen verÂsuÂchen die Torys derÂzeit in der AsylÂpoÂliÂtik, das VerÂfasÂsungsÂgeÂricht auszuhebeln.
Ă„hnÂliÂches geschieht seit dem VorÂmarsch der RechtsÂbĂĽrÂgerÂliÂchen und der RechÂten auch in der Schweiz. Der Respekt vor VerÂfasÂsung und Gesetz schwinÂdet, im GroÂssen wie im KleiÂnen. Ein draÂstiÂscher Fall: BunÂdesÂrat Rudolf Merz verÂfälschÂte AngaÂben zu den SteuÂerÂausÂfälÂlen im ZusamÂmenÂhang mit der 2008 knapp angeÂnomÂmeÂnen UnterÂnehÂmensÂsteuÂer-Reform II. Das BunÂdesÂgeÂricht bestäÂtigÂte den VerÂstoss, doch blieÂben die KonÂseÂquenÂzen aus. Oder kĂĽrzÂlich im KanÂton Bern: Die bĂĽrÂgerÂliÂche MehrÂheit im GroÂssen Rat fouÂtierÂte sich um die GemeinÂdeÂauÂtoÂnoÂmie der rot-grĂĽÂnen StädÂte Bern und Biel und zwang ihnen die VideoÂĂĽberÂwaÂchung auf. Die öffentÂliÂche ReakÂtiÂon? Ein Achselzucken.
In die gleiÂche RichÂtung geht auch die aufÂgeÂgleiÂste AusÂhöhÂlung der kanÂtoÂnaÂlen MinÂdestÂlöhÂne. Die meiÂsten bĂĽrÂgerÂliÂchen ParÂlaÂmenÂtaÂriÂer schoÂben wähÂrend der BeraÂtung alle rechtsÂstaatÂliÂchen EinÂwänÂde beiÂseiÂte, offenÂbarÂten damit eine Herr-im-Haus-MenÂtaÂliÂtät und waren offenÂbar ĂĽberÂzeugt, dass ihre poliÂtiÂsche MehrÂheit sie legiÂtiÂmiert, das Recht nach ihrem Gusto zu beuÂgen und brechen.
SchweiÂgenÂde Medien
AngeÂsichts dieÂser VorÂgänÂge im ParÂlaÂment ist es umso bedenkÂliÂcher, wie sich die MediÂen verÂhalÂten. Statt den RechtsÂbruch anzuÂklaÂgen, ĂĽben sich die HĂĽter von DemoÂkraÂtie und RechtsÂstaatÂlichÂkeit in PasÂsiÂviÂtät. Nur „Blick“, „WatÂson“ und „RepuÂblik“ widÂmeÂten dem verÂfasÂsungsÂwidÂriÂgen GesetÂzesÂentÂwurf MitÂte JanuÂar ein paar AgenÂturÂzeiÂlen. AnsonÂsten herrschÂte SchweiÂgen. Was nicht untyÂpisch ist: Wo rechÂte MehrÂheiÂten marÂschieÂren, geraÂten die MediÂen in deren Sog und sehen grossÂzĂĽÂgig ĂĽber dunkÂle Flecken hinÂweg. DĂĽsteÂre Aussichten.
Autor und Foto/​Montage: WalÂter Langenegger
Link zur VerÂnehmÂlasÂsung:
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-99801.html