Juli 2022. Vorhang auf für das nächste Trauerspiel! Der Protagonist: der Neoliberalismus. Das Opfer: die Verrechnungssteuer. Im Februar 2022 wollten die neoliberalen Kräfte – Finanzwirtschaft und bürgerliche Mehrheit – noch die Stempelsteuer abschaffen. Das misslang zum Glück. Nun versuchen die gleichen Kreise, im September die Verrechnungssteuer auf Obligationen aufzuheben. Davon profitierten vor allem Konzerne und ausländische Anleger, darunter Oligarchen und Superreiche. Mehrere hundert Millionen Franken würden dem Schweizer Staat damit Jahr für Jahr verloren gehen.
Macht die Reichen reicher?
Hintergrund des geforderten Steuerabbaus ist die sogenannte Trickle-down-Theorie. Diese besagt, dass es sinnvoll sei, die Reichen noch reicher zu machen. Denn wenn sie einmal superreich seien, dann würden sie so viel konsumieren, investieren und geschäften, dass ihr Geld früher oder später hinabrieseln würde zu uns allen bis hinunter in die untersten Schichten.
Mag die Trickle-down-Theorie noch so abstrus sein: Sie ist leider kein Witz. Sie ist vielmehr ein zentraler Glaubenssatz des Neoliberalismus. Sie stammt noch aus den Zeiten von Adam Smith (17. Jahrhundert), wurde in den 80er-Jahren von Ronald Regan und Margaret Thatcher wiedererweckt, dient den bürgerlichen Parteien von GLP bis SVP seither als Rechtfertigung für das Steuerdumping zugunsten der hohen Einkommen und der Vermögenden – und ist so grundfalsch wie die Behauptung, die Welt sei eine flache Scheibe.
Ein Zombie geht um …
Tatsache ist: Die Trickle-down-Theorie ist steuerpolitisches Voodoo. Es gibt keine Belege dafür, dass sie je einen positiven Effekt für eine Gesellschaft hatte – ausser dass die Reichen immer reicher und mächtiger werden. Die unteren Schichten, insbesondere die Mittelklasse, hingegen gerät wegen der Umverteilung von unten nach oben immer stärker unter Druck. Namhafte Wirtschaftswissenschaftler wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz haben der Theorie denn auch jede Gültigkeit abgesprochen. Die Trickle-down-Theorie müsste daher eigentlich schon längst tot, begraben, verwest und vergessen sein.
Ist sie aber nicht. Sie treibt weiterhin ihr Unwesen, wie die Vorlage zur Abschaffung der Verrechnungssteuer zeigt. Die Trickle-down-Theorie ist ein Zombie, erschaffen von der neoliberalen Ideologie. Sie sitzt uns im Nacken und lässt uns nicht mehr los. Mag die Theorie noch so falsch sein – eines scheint sie zu beweisen: Zombies leben länger!
Es hat noch andere Zombies
Es ist an der Zeit, dass wir diesen Zombie ins Pfefferland jagen. Ein Nein zur Abschaffung der Verrechnungssteuer auf Obligationen wäre ein Etappenziel auf diesem Weg. Schliesslich gibt es noch andere frei herumlaufende Zombies. Sie heissen: Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung und Demokratieverachtung …
Walter Langenegger
“Mut zum Aufbruch” von David de Pury: Mit dieser wirtschaftspolitischen Agenda wurde anfangs der 90er-Jahre der Neoliberalismus mit seiner abstrusen Trickle-down-Theorie in der Schweiz eingeläutet. Es folgte eine Politik der Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung sowie des Steuerabbaus und einer ungerechten Umverteilung von unten nach oben — eine Politik, die bis heute anhält.