AHV: Ver­kapp­te Kop­pe­lung (II)

Die Initia­ti­ve der Jung­frei­sin­ni­gen für ein Ren­ten­al­ter 67 ist der Ver­such, die Umver­tei­lungs­wir­kung der AHV mit einer tech­no­kra­ti­schen For­mel zurück­zu­fah­ren und ein­zu­frie­ren. Das ist Klas­sen­kampf von oben: Es geht dar­um, bei der Mit­tel­klas­se zu spa­ren, um hohe Ein­kom­men und Ver­mö­gen­de zu scho­nen. Hier in einer zwei­ten Fol­ge zur Alters­vor­sor­ge die Grün­de, die für eine wuch­ti­ge Ableh­nung der FDP-Initia­ti­ve spre­chen am 3. März 2024.
  

Okto­ber 2023. Die Lei­er wird gespielt, seit es die AHV gibt: „Mor­gen, lie­be Kin­der­lein, wird es nichts mehr geben“, war­nen Bür­ger­li­che und Finanz­in­du­strie seit jeher, malen den bal­di­gen Kol­laps des Sozi­al­wer­kes an die Wand und recht­fer­ti­gen damit Abbau­for­de­run­gen. Ein­ge­trof­fen ist die­ses Sze­na­rio frei­lich noch nie, nicht ein­mal ansatz­wei­se. Die AHV erwies sich dank soli­da­ri­scher Umver­tei­lung und Umla­ge­ver­fah­ren immer wie­der als robust und kri­sen­re­si­stent, erst recht im Ver­gleich zur Zwei­ten Säule.

Dass dem so ist, ist gewollt und Resul­tat bür­ger­li­cher Mehr­heits­po­li­tik. Sie ori­en­tiert sich seit über 30 Jah­ren an einer neo­li­be­ra­len Wirtschafts‑, Finanz‑, Steu­er- und Sozi­al­po­li­tik und hat mit Pri­va­ti­sie­rung, Dere­gu­lie­rung, Libe­ra­li­sie­rung und Staats­ab­bau eine unheil­vol­le finan­zi­el­le Umschich­tung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heu­te hebt sich eine klei­ne, pri­vi­le­gier­te Schicht von Super­rei­chen und Ver­mö­gen­den immer stär­ker vom Rest der Bevöl­ke­rung ab, die ins­be­son­de­re in den letz­ten Jah­ren finan­zi­ell immer mehr unter Druck gerät.

Unge­rech­tes Steuersystem

Augen­fäl­lig ist die­se Ent­wick­lung beson­ders bei der Steu­er­be­la­stung: Nach Jahr­zehn­ten des Steu­er­baus zeigt sich deut­lich, wer vom System pro­fi­tiert: die hohen Ein­kom­men und Ver­mö­gen­den. Wer eine Mil­li­on ver­dient, zahlt heu­te 20 Pro­zent weni­ger Steu­ern als frü­her. Für alle ande­ren mit Durch­schnitts­löh­nen hat sich indes nichts geän­dert: Sie tra­gen die glei­che Steu­er­last wie noch 1990.

Gra­fik

Grund dafür ist, dass Bund und Kan­to­ne jah­re­lang gezielt nur die pro­gres­siv bzw. sozi­al aus­ge­stal­te­ten Steu­ern wie etwa jene der Ein­kom­men­steu­ern mit­tels Tarif­sen­kun­gen oder Steu­er­ab­zü­gen redu­zier­ten. Das bevor­teilt die hohen Ein­kom­men; allen ande­ren indes bringt dies nur mini­ma­le Steu­er­erspar­nis­se. Im Gegen­zug erhöh­te die Poli­tik auf allen Ebe­nen die indi­rek­ten Steu­ern wie Abga­ben, Gebüh­ren und Mehr­wert­steu­er, jüngst etwa für die AHV21. Die­se Steu­ern wir­ken wie Kopf­steu­ern und bela­sten das Bud­get der unte­ren und mitt­le­ren Lohn­klas­sen ungleich stär­ker als jenes der Oberschicht.

Hin­zu kommt, dass die Finanz­lob­by in den Par­la­men­ten auch tie­fe­re Kapi­tal­ge­winn­steu­ern durch­set­zen konn­te. Seit 2000 san­ken sie um einen Fünf­tel. Die Steu­ern auf Arbeit dage­gen nah­men zu, und zwar um 3,9 Pro­zent. Damit wur­den jene belohnt, die ihr Geld an der Bör­se ver­die­nen, und jene bestraft, die einer Berufs­ar­beit nachgehen.

Das Fazit nach 30 Jah­ren Neo­li­be­ra­lis­mus in der Schweiz: Oben ver­teil­ten die Bür­ger­li­chen Geschen­ke, unten for­der­ten sie Opfer ein.

Kopf­steu­ern statt sozia­ler Prämien

Die­ses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle ver­tei­lungs­po­li­ti­schen Berei­che. Ein Bei­spiel dafür sind die Kran­ken­kas­sen­prä­mi­en. Frü­her sub­ven­tio­nier­te sie der Staat aus dem all­ge­mei­nen Steu­er­haus­halt und hielt sie auf die­se Wei­se tief. Mit dem neu­en Kran­ken­ver­si­che­rungs­ge­setz 1994 (KVG) wur­den die Kosten aber in gro­ssem Umfang auf die Ver­si­cher­ten über­wälzt. Seit­her haben sich die Prä­mi­en mehr als verdoppelt.

Gra­fik

Die unte­ren Ein­kom­men erhal­ten zwar eine Prä­mi­en­ver­bil­li­gung, nicht aber die Mit­tel­klas­se. Sie lei­det daher am stärk­sten unter den als Kopf­steu­ern aus­ge­stal­te­ten Prä­mi­en. Geschont wird dage­gen die Ober­schicht: Ihr machen die stei­gen­den Prä­mi­en nichts aus, weil sie im Ver­hält­nis zum hohen Ein­kom­men und zur gerin­gen Steu­er­last kei­nen wesent­li­chen Aus­ga­ben­po­sten dar­stel­len. Oder anders gesagt: Die Ober­schicht wur­de mit dem KVG und den Steu­er­sen­kun­gen sozu­sa­gen aus ihrer soli­da­ri­schen Pflicht entlassen. 

Mie­ter am kür­ze­ren Hebel

Was Mit­tel­klas­se und Gering­ver­die­nen­de eben­falls stark bela­stet, sind die Mie­ten. Trotz sin­ken­der Hypo­the­kar­zin­sen sind sie in den letz­ten 16 Jah­ren um über 22 Pro­zent gestie­gen. Dies nicht, weil zu weni­ge Woh­nun­gen erstellt wor­den wären; im Gegen­teil, es wird mas­siv gebaut. Der Grund ist viel­mehr, dass die Ver­mie­ter die Woh­nungs­knapp­heit zur Ren­di­te-Opti­mie­rung aus­nut­zen und ent­ge­gen dem Miet­recht fak­tisch die Markt­mie­te durch­set­zen. Sie erhö­hen oft wider­recht­lich die Mie­ten und geben die Zins­sen­kun­gen nicht wie vor­ge­schrie­ben wei­ter. Denn sie wis­sen: Mie­te­rin­nen und Mie­ter weh­ren sich kaum, weil sie die Woh­nung nicht ver­lie­ren wol­len und Sank­tio­nen befürchten.

Gra­fik

Dass sich die Immo­bi­li­en­bran­che dies lei­sten kann, hat mit ihrer star­ken Lob­by im Par­la­ment zu tun, einem schwa­chen Staat, dem die Instru­men­te zum Voll­zug des Miet­ge­set­zes feh­len, und einer Mie­ter­schaft, die nur schlecht orga­ni­siert ist, obwohl sie über eine Mehr­heit ver­fügt. Poli­ti­sche Pas­si­vi­tät sorgt somit dafür, dass die Mie­ter am kür­ze­ren Hebel sitzen.

Wer kann, der ersteht daher Wohn­ei­gen­tum, zumal die­ses steu­er­be­gün­stigt ist und letzt­lich gün­sti­ger kommt als eine Miet­woh­nung. Aber so sehr sich dies vie­le Mit­tel­klas­se-Fami­li­en auch wün­schen: Sie wer­den kaum je in der Lage sein, das nöti­ge Eigen­ka­pi­tal aufzubringen.

Hohe Ren­di­ten, tie­fe Löhne

Zu alle­dem kommt hin­zu, dass die Löh­ne hin­ter der Wirt­schafts­lei­stung hin­ter­her­hin­ken, was eben­falls auch die Mit­tel­klas­se trifft. In den letz­ten zwan­zig Jah­ren nahm die Wert­schöp­fung der Gesamt­wirt­schaft zwar um 32 Pro­zent zu. Aber die nor­ma­len Löh­ne stie­gen nur zwi­schen 17 und 19 Pro­zent an. Ein­zig die Top-Löh­ne schos­sen durch die Decke. 

Gra­fik

Auch das ist eine Form unge­rech­ter Umver­tei­lung. Tie­fe Löh­ne bei hoher Pro­duk­ti­vi­tät bedeu­tet, dass die Arbeit unge­nü­gend ent­löhnt und in Form von über­höh­ten Ren­di­ten von den Aktio­nä­ren abge­schöpft wird. Mit Gesamt­ar­beits­ver­trä­gen ver­su­chen die Gewerk­schaf­ten zwar, Gegen­steu­er zu geben. Da sich aber vie­le Men­schen in der Schweiz oft einer höhe­ren sozio­öko­no­mi­schen Schicht zurech­nen als dies tat­säch­lich der Fall ist, sind sie gewerk­schafts­kri­tisch. Je tie­fer der Orga­ni­sa­ti­ons­grad der Arbeit­neh­mer-Orga­ni­sa­tio­nen aber ist, desto schwie­ri­ger wird es, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Druck für gerech­te­re Löh­ne zu entwickeln.

Sin­ken­de Renten

Was mit dem Aus­ein­an­der­ge­hen der Lohn­sche­re beginnt, setzt sich bei den Ren­ten fort: Tie­fe­re Löh­ne bedeu­ten tie­fe­re Ren­ten, vor allem in der beruf­li­chen Vor­sor­ge (BVG). Obwohl die BVG-Lohn­bei­trä­ge seit Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich stei­gen, sind die Ren­ten im Sink­flug. Mit der jüngst, gegen den Wil­len der Lin­ken beschlos­se­nen BVG-Revi­si­on wird sich die­se Ten­denz wei­ter verschärfen.

Gra­fik

Die Finanz­wirt­schaft begrün­det die sin­ken­den BVG-Ren­ten nicht zuletzt mit der Demo­gra­fie. Das frei­lich ist ein fata­les Argu­ment. Denn das BVG wur­de 1985 gera­de mit dem Ver­spre­chen ein­ge­führt, die Alters­vor­sor­ge dank Kapi­tal­markt-Finan­zie­rung robu­ster zu machen gegen die zuneh­men­de Alte­rung der Gesell­schaft. Die­ses Ver­spre­chen ent­puppt sich heu­te als ein gro­sser Irr­tum, der uns immer teu­rer zu ste­hen kommt.

Ein­zi­ger Licht­blick bleibt damit die AHV. Schon seit Jah­ren tot­ge­sagt, benö­tigt sie trotz stei­gen­der Rent­ner­zah­len nach wie vor viel weni­ger Mit­tel als das BVG und ist nach wie vor ein wich­ti­ges Instru­ment gegen die Altersarmut.

Mit­tel­kas­se zwi­schen Ham­mer und Amboss

All die­se Zah­len und Sta­ti­sti­ken machen klar, dass sich die Schweiz ent­ge­gen unse­rem Selbst­bild­nis in einer unheil­vol­len Spi­ra­le bewegt. Zwar steigt das Wirt­schafts­wachs­tum kon­ti­nu­ier­lich an und macht das Land immer rei­cher. Doch die­ser Reich­tum, täg­lich erar­bei­tet von Mil­lio­nen von Arbeit­neh­men­den, erreicht die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung nicht mehr. Er bleibt in den obe­ren Schich­ten hän­gen, wäh­rend unten nicht mehr viel ankommt.

Dies trifft die gan­ze Bevöl­ke­rung und ins­be­son­de­re die Mit­tel­klas­se, das Fun­da­ment jeder funk­tio­nie­ren­den Gesell­schaft. Je grö­sser die Unter­schie­de bei Ver­mö­gen und Ein­kom­men, sind, desto mehr gerät sie zwi­schen Ham­mer und Amboss.

Die Fol­ge davon ist: Vor 30 Jah­ren hat­te die Mit­tel­klas­se noch die Per­spek­ti­ve, ihren gesell­schaft­li­chen Sta­tus und deren ihrer Kin­der wei­ter zu ver­bes­sern. Von die­ser Vor­stel­lung müs­sen sie sich immer mehr Men­schen ver­ab­schie­den. Ent­we­der gehö­ren sie zu den weni­gen, die auf der Roll­trep­pe ste­hen. Oder sie stram­pelt sich ab, ohne wirk­lich rich­tig vorwärtszukommen.

Das macht unser Land immer mehr zu einer armen rei­chen Schweiz.

Wal­ter Langenegger

(1) Alle Gra­fi­ken sind ent­nom­men aus dem Ana­ly­se­pa­pier „Die Kauf­kraft ist unter Druck“ von SP-Natio­nal­rä­tin Sami­ra Mar­ti. Die Öko­no­min hat das Papier im Janu­ar 2003 ver­fasst und publiziert.

(2) Die Pro-Kopf-Anga­ben basie­ren auf der Zah­len des Bun­des­am­tes für Sta­ti­stik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html

Gra­fik

Dass dem so ist, ist gewollt und Resul­tat bür­ger­li­cher Mehr­heits­po­li­tik. Sie ori­en­tiert sich seit über 30 Jah­ren an einer neo­li­be­ra­len Wirtschafts‑, Finanz‑, Steu­er- und Sozi­al­po­li­tik und hat mit Pri­va­ti­sie­rung, Dere­gu­lie­rung, Libe­ra­li­sie­rung und Staats­ab­bau eine unheil­vol­le finan­zi­el­le Umschich­tung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heu­te hebt sich eine klei­ne, pri­vi­le­gier­te Schicht von Super­rei­chen und Ver­mö­gen­den immer stär­ker vom Rest der Bevöl­ke­rung ab, die ins­be­son­de­re in den letz­ten Jah­ren finan­zi­ell immer mehr unter Druck gerät.

Unge­rech­tes Steuersystem

Augen­fäl­lig ist die­se Ent­wick­lung beson­ders bei der Steu­er­be­la­stung: Nach Jahr­zehn­ten des Steu­er­baus zeigt sich deut­lich, wer vom System pro­fi­tiert: die hohen Ein­kom­men und Ver­mö­gen­den. Wer eine Mil­li­on ver­dient, zahlt heu­te 20 Pro­zent weni­ger Steu­ern als frü­her. Für alle ande­ren mit Durch­schnitts­löh­nen hat sich indes nichts geän­dert: Sie tra­gen die glei­che Steu­er­last wie noch 1990.

Gra­fik

Grund dafür ist, dass Bund und Kan­to­ne jah­re­lang gezielt nur die pro­gres­siv bzw. sozi­al aus­ge­stal­te­ten Steu­ern wie etwa jene der Ein­kom­men­steu­ern mit­tels Tarif­sen­kun­gen oder Steu­er­ab­zü­gen redu­zier­ten. Das bevor­teilt die hohen Ein­kom­men; allen ande­ren indes bringt dies nur mini­ma­le Steu­er­erspar­nis­se. Im Gegen­zug erhöh­te die Poli­tik auf allen Ebe­nen die indi­rek­ten Steu­ern wie Abga­ben, Gebüh­ren und Mehr­wert­steu­er, jüngst etwa für die AHV21. Die­se Steu­ern wir­ken wie Kopf­steu­ern und bela­sten das Bud­get der unte­ren und mitt­le­ren Lohn­klas­sen ungleich stär­ker als jenes der Oberschicht.

Hin­zu kommt, dass die Finanz­lob­by in den Par­la­men­ten auch tie­fe­re Kapi­tal­ge­winn­steu­ern durch­set­zen konn­te. Seit 2000 san­ken sie um einen Fünf­tel. Die Steu­ern auf Arbeit dage­gen nah­men zu, und zwar um 3,9 Pro­zent. Damit wur­den jene belohnt, die ihr Geld an der Bör­se ver­die­nen, und jene bestraft, die einer Berufs­ar­beit nachgehen.

Das Fazit nach 30 Jah­ren Neo­li­be­ra­lis­mus in der Schweiz: Oben ver­teil­ten die Bür­ger­li­chen Geschen­ke, unten for­der­ten sie Opfer ein.

Kopf­steu­ern statt sozia­ler Prämien

Die­ses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle ver­tei­lungs­po­li­ti­schen Berei­che. Ein Bei­spiel dafür sind die Kran­ken­kas­sen­prä­mi­en. Frü­her sub­ven­tio­nier­te sie der Staat aus dem all­ge­mei­nen Steu­er­haus­halt und hielt sie auf die­se Wei­se tief. Mit dem neu­en Kran­ken­ver­si­che­rungs­ge­setz 1994 (KVG) wur­den die Kosten aber in gro­ssem Umfang auf die Ver­si­cher­ten über­wälzt. Seit­her haben sich die Prä­mi­en mehr als verdoppelt.

Gra­fik

Die unte­ren Ein­kom­men erhal­ten zwar eine Prä­mi­en­ver­bil­li­gung, nicht aber die Mit­tel­klas­se. Sie lei­det daher am stärk­sten unter den als Kopf­steu­ern aus­ge­stal­te­ten Prä­mi­en. Geschont wird dage­gen die Ober­schicht: Ihr machen die stei­gen­den Prä­mi­en nichts aus, weil sie im Ver­hält­nis zum hohen Ein­kom­men und zur gerin­gen Steu­er­last kei­nen wesent­li­chen Aus­ga­ben­po­sten dar­stel­len. Oder anders gesagt: Die Ober­schicht wur­de mit dem KVG und den Steu­er­sen­kun­gen sozu­sa­gen aus ihrer soli­da­ri­schen Pflicht entlassen. 

Mie­ter am kür­ze­ren Hebel

Was Mit­tel­klas­se und Gering­ver­die­nen­de eben­falls stark bela­stet, sind die Mie­ten. Trotz sin­ken­der Hypo­the­kar­zin­sen sind sie in den letz­ten 16 Jah­ren um über 22 Pro­zent gestie­gen. Dies nicht, weil zu weni­ge Woh­nun­gen erstellt wor­den wären; im Gegen­teil, es wird mas­siv gebaut. Der Grund ist viel­mehr, dass die Ver­mie­ter die Woh­nungs­knapp­heit zur Ren­di­te-Opti­mie­rung aus­nut­zen und ent­ge­gen dem Miet­recht fak­tisch die Markt­mie­te durch­set­zen. Sie erhö­hen oft wider­recht­lich die Mie­ten und geben die Zins­sen­kun­gen nicht wie vor­ge­schrie­ben wei­ter. Denn sie wis­sen: Mie­te­rin­nen und Mie­ter weh­ren sich kaum, weil sie die Woh­nung nicht ver­lie­ren wol­len und Sank­tio­nen befürchten.

Gra­fik

Dass sich die Immo­bi­li­en­bran­che dies lei­sten kann, hat mit ihrer star­ken Lob­by im Par­la­ment zu tun, einem schwa­chen Staat, dem die Instru­men­te zum Voll­zug des Miet­ge­set­zes feh­len, und einer Mie­ter­schaft, die nur schlecht orga­ni­siert ist, obwohl sie über eine Mehr­heit ver­fügt. Poli­ti­sche Pas­si­vi­tät sorgt somit dafür, dass die Mie­ter am kür­ze­ren Hebel sitzen.

Wer kann, der ersteht daher Wohn­ei­gen­tum, zumal die­ses steu­er­be­gün­stigt ist und letzt­lich gün­sti­ger kommt als eine Miet­woh­nung. Aber so sehr sich dies vie­le Mit­tel­klas­se-Fami­li­en auch wün­schen: Sie wer­den kaum je in der Lage sein, das nöti­ge Eigen­ka­pi­tal aufzubringen.

Hohe Ren­di­ten, tie­fe Löhne

Zu alle­dem kommt hin­zu, dass die Löh­ne hin­ter der Wirt­schafts­lei­stung hin­ter­her­hin­ken, was eben­falls auch die Mit­tel­klas­se trifft. In den letz­ten zwan­zig Jah­ren nahm die Wert­schöp­fung der Gesamt­wirt­schaft zwar um 32 Pro­zent zu. Aber die nor­ma­len Löh­ne stie­gen nur zwi­schen 17 und 19 Pro­zent an. Ein­zig die Top-Löh­ne schos­sen durch die Decke. 

Gra­fik

Auch das ist eine Form unge­rech­ter Umver­tei­lung. Tie­fe Löh­ne bei hoher Pro­duk­ti­vi­tät bedeu­tet, dass die Arbeit unge­nü­gend ent­löhnt und in Form von über­höh­ten Ren­di­ten von den Aktio­nä­ren abge­schöpft wird. Mit Gesamt­ar­beits­ver­trä­gen ver­su­chen die Gewerk­schaf­ten zwar, Gegen­steu­er zu geben. Da sich aber vie­le Men­schen in der Schweiz oft einer höhe­ren sozio­öko­no­mi­schen Schicht zurech­nen als dies tat­säch­lich der Fall ist, sind sie gewerk­schafts­kri­tisch. Je tie­fer der Orga­ni­sa­ti­ons­grad der Arbeit­neh­mer-Orga­ni­sa­tio­nen aber ist, desto schwie­ri­ger wird es, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Druck für gerech­te­re Löh­ne zu entwickeln.

Sin­ken­de Renten

Was mit dem Aus­ein­an­der­ge­hen der Lohn­sche­re beginnt, setzt sich bei den Ren­ten fort: Tie­fe­re Löh­ne bedeu­ten tie­fe­re Ren­ten, vor allem in der beruf­li­chen Vor­sor­ge (BVG). Obwohl die BVG-Lohn­bei­trä­ge seit Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich stei­gen, sind die Ren­ten im Sink­flug. Mit der jüngst, gegen den Wil­len der Lin­ken beschlos­se­nen BVG-Revi­si­on wird sich die­se Ten­denz wei­ter verschärfen.

Gra­fik

Die Finanz­wirt­schaft begrün­det die sin­ken­den BVG-Ren­ten nicht zuletzt mit der Demo­gra­fie. Das frei­lich ist ein fata­les Argu­ment. Denn das BVG wur­de 1985 gera­de mit dem Ver­spre­chen ein­ge­führt, die Alters­vor­sor­ge dank Kapi­tal­markt-Finan­zie­rung robu­ster zu machen gegen die zuneh­men­de Alte­rung der Gesell­schaft. Die­ses Ver­spre­chen ent­puppt sich heu­te als ein gro­sser Irr­tum, der uns immer teu­rer zu ste­hen kommt.

Ein­zi­ger Licht­blick bleibt damit die AHV. Schon seit Jah­ren tot­ge­sagt, benö­tigt sie trotz stei­gen­der Rent­ner­zah­len nach wie vor viel weni­ger Mit­tel als das BVG und ist nach wie vor ein wich­ti­ges Instru­ment gegen die Altersarmut.

Mit­tel­kas­se zwi­schen Ham­mer und Amboss

All die­se Zah­len und Sta­ti­sti­ken machen klar, dass sich die Schweiz ent­ge­gen unse­rem Selbst­bild­nis in einer unheil­vol­len Spi­ra­le bewegt. Zwar steigt das Wirt­schafts­wachs­tum kon­ti­nu­ier­lich an und macht das Land immer rei­cher. Doch die­ser Reich­tum, täg­lich erar­bei­tet von Mil­lio­nen von Arbeit­neh­men­den, erreicht die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung nicht mehr. Er bleibt in den obe­ren Schich­ten hän­gen, wäh­rend unten nicht mehr viel ankommt.

Dies trifft die gan­ze Bevöl­ke­rung und ins­be­son­de­re die Mit­tel­klas­se, das Fun­da­ment jeder funk­tio­nie­ren­den Gesell­schaft. Je grö­sser die Unter­schie­de bei Ver­mö­gen und Ein­kom­men, sind, desto mehr gerät sie zwi­schen Ham­mer und Amboss.

Die Fol­ge davon ist: Vor 30 Jah­ren hat­te die Mit­tel­klas­se noch die Per­spek­ti­ve, ihren gesell­schaft­li­chen Sta­tus und deren ihrer Kin­der wei­ter zu ver­bes­sern. Von die­ser Vor­stel­lung müs­sen sie sich immer mehr Men­schen ver­ab­schie­den. Ent­we­der gehö­ren sie zu den weni­gen, die auf der Roll­trep­pe ste­hen. Oder sie stram­pelt sich ab, ohne wirk­lich rich­tig vorwärtszukommen.

Das macht unser Land immer mehr zu einer armen rei­chen Schweiz.

Wal­ter Langenegger

(1) Alle Gra­fi­ken sind ent­nom­men aus dem Ana­ly­se­pa­pier „Die Kauf­kraft ist unter Druck“ von SP-Natio­nal­rä­tin Sami­ra Mar­ti. Die Öko­no­min hat das Papier im Janu­ar 2003 ver­fasst und publiziert.

(2) Die Pro-Kopf-Anga­ben basie­ren auf der Zah­len des Bun­des­am­tes für Sta­ti­stik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html

Die AHV schreibt bis auf wei­te­res nach wie vor schwar­ze Zah­len, allen düste­ren Sze­na­ri­en zum Trotz.

Haupt­grund dafür ist die kon­ti­nu­ier­lich anstei­gen­de Pro­duk­ti­vi­tät und Wert­schöp­fung, ange­trie­ben durch den tech­ni­schen Fort­schritt und die wirt­schaft­li­che Inno­va­ti­on. Sie sor­gen für eine Zunah­me der Löh­ne und damit dafür, dass die Ein­nah­men der AHV aus den Lohn­pro­zen­ten Jahr für Jahr stei­gen. Das erlaubt es dem Sozi­al­werk, die Alte­rung der Gesell­schaft zu einem beträcht­li­chen Teil auf­zu­fan­gen und immer mehr Ren­ten zu finan­zie­ren. Dies wie­der­um macht klar: Das Wirt­schafts­wachs­tum ist der zen­tra­le Fak­tor für die Finan­zie­rung der AHV, nicht die Demo­gra­fie. Die­se spielt nur eine unter­ge­ord­ne­te Rolle.

Das ist die mas­siv unter­schätz­te Wir­kung von Wirt­schafts­wachs­tum und Pro­duk­ti­vi­tät: Zwar nimmt die Zahl der Rent­ner im Ver­gleich zu den Erwerbs­tä­ti­gen zu …
… trotz­dem neh­men die Ein­nah­men der AHV dank höhe­rer Wert­schöp­fung und damit höhe­ren Löh­nen lau­fend zu. Das zeigt: Die Demo­gra­fie spielt eine unter­ge­ord­ne­te Rolle.

Das hin­dert die Jung­frei­sin­ni­ger aller­dings nicht dar­an, es erneut mit der alten Lei­er zu ver­su­chen. Als Vor­wand die­nen ihnen dies­mal die Baby­boo­mer, die jetzt in Ren­te gehen. Bestärkt durch das knap­pe Volks-Ja zum Frau­en­ren­ten­al­ter 65 ver­lan­gen sie nun, das Ren­ten­al­ter zunächst schritt­wei­se bis 2032 auf 66 zu erhö­hen und es dann mit­tels einer fixen mathe­ma­ti­schen For­mel an die Lebens­er­war­tung zu kop­peln. Das wür­de dazu füh­ren, dass das Ren­ten­al­ter in zwan­zig Jah­ren bei etwa 67 läge.

„Fron­dienst“ leisten?

De fac­to bedeu­te­te die­ser Mecha­nis­mus, dass die Aus­ga­ben für die AHV mehr oder weni­ger ein­ge­fro­ren wer­den. Je mehr Ren­ten die AHV aus­zah­len muss, desto höher das Ren­ten­al­ter. Die Wurst wird gestreckt, damit sie län­ger hält. So wer­den die Kosten tief gehal­ten und es braucht kaum Zusatz­fi­nan­zie­run­gen für die star­ken Jahrgänge.

Dass dies eine gute Nach­richt für die obe­ren zehn Pro­zent der Gesell­schaft wäre, liegt auf der Hand: Sie wür­den davor bewahrt, etwa mit­tels unli­mi­tier­ten Lohn­pro­zen­te oder über die direk­te Bun­des­steu­er noch mehr Bei­trä­ge für die AHV zu lei­sten und damit die Ren­ten für die brei­te Bevöl­ke­rung mitzufinanzieren.

Umge­kehrt wäre es eine schlech­te Nach­richt für alle ande­ren. Für sie bedeu­te­te die neue Rege­lung eine Art „Fron­dienst“: Da sie nicht die Mit­tel für eine Früh­pen­sio­nie­rung haben, müss­ten sie qua­si die Mehr­ko­sten der Demo­gra­fie mit Erwerbs­tä­tig­keit bis ins hohe Alter „abar­bei­ten“.  

Neue Unge­rech­tig­kei­ten

Kommt hin­zu: Die Kop­pe­lung von Lebens­er­war­tung und Ren­ten­al­ter wür­de nicht nur eine gesell­schaft­lich sinn­vol­le Umver­tei­lung unter­mi­nie­ren, son­dern neue Pro­ble­me schaf­fen. Das gilt etwa für älte­re Arbeit­neh­men­de: Sie sind viel stär­ker von Arbeits­lo­sig­keit betrof­fen als ande­re Erwerbs­tä­ti­ge. Je spä­ter sie in Ren­te gehen kön­nen, desto mehr droht ihnen Alters­ar­beits­lo­sig­keit und Altersarmut.

Die Arbeits­lo­sen­quo­te bei den über 60jährigen ist heu­te schon höher als bei allen ande­ren Alters­klas­sen. Mit dem Ren­ten­al­ter 67 droht sie wei­ter zu steigen.

Zudem wür­den sich die sozia­len Unter­schie­de zwi­schen den Ein­kom­mens­klas­sen wei­ter ver­schär­fen. Nach­ge­wie­sen ist, dass Men­schen mit hohen Löh­nen län­ger leben als jene mit tie­fen. Ein immer höhe­res Ren­ten­al­ter bedeu­te­te für Letz­te­re, immer weni­ger von der Pen­sio­nie­rung zu haben, wäh­rend sich die Bes­ser­ge­stell­ten eine Früh­pen­sio­nie­rung lei­sten können.

Wer ein höhe­res Ein­kom­men hat, lebt län­ger und hat mehr von der Pen­si­on. Jede Erhöung des Ren­ten­al­tes benach­tei­ligt daher die unte­ren Lohn­klas­sen: Die­se müss­ten noch län­ger arbei­ten und könn­ten noch weni­ger lan­ge Ren­te beziehen.
Die Lebens­er­war­tung ist von Kan­ton zu Kan­ton unter­schied­lich. Eine Kop­pe­lung des Ren­ten­al­ters an die Lebens­er­war­tung führt daher zu neu­en Ungerechtigkeiten.

Erst recht absurd erscheint der gefor­der­te Mecha­nis­mus, wenn man sich die unter­schied­li­che Lebens­er­war­tung nach Geschlech­tern, Gene­ra­tio­nen oder Regio­nen vor Augen hält oder wenn man sich fragt, wel­che Fol­gen für das Ren­ten­al­ter etwa eine Pan­de­mie, neue Heil­mit­tel gegen Krebs und Alters­de­menz oder eine schwe­re Wirt­schafts­kri­se hät­te. Über­las­sen wir die Bestim­mung des Ren­ten­al­ters auch dann ganz den Sta­ti­sti­kern, statt das zu tun, was in einer Demo­kra­tie oppor­tun wäre? Näm­lich poli­tisch dar­über zu entscheiden?

Und was geschieht, wenn der­einst die Baby­boo­mer-Gene­ra­ti­on dahin­ge­schie­den ist, die AHV mas­siv weni­ger Ren­ten finan­zie­ren muss und sich die Über­schüs­se im Fonds tür­men? Bleibt es beim hohen Ren­ten­al­ter? Oder kom­men dann die Jung­frei­sin­ni­gen mit einer neu­en Initia­ti­ve für die Sen­kung der Bun­des­steu­er zwecks Ver­rin­ge­rung des AHV-Bun­des­bei­trags und der AHV-Lohn­pro­zen­te, wovon selbst­re­dend wie­der die Ober­schicht am mei­sten pro­fi­tie­ren würde?

Neo­li­be­ra­lis­mus pur

All dies ent­larvt, wor­um es den Jung­frei­sin­ni­gen im Kern geht: um eine Ent­po­li­ti­sie­rung einer zen­tra­len sozia­len Ver­tei­lungs­fra­ge mit dem Ziel, dass die Pri­vi­le­gier­ten künf­tig finan­zi­ell mög­lichst nicht zusätz­lich bela­stet werden.

Das ist Neo­li­be­ra­lis­mus pur und liegt alles ande­re als im Inter­es­se des Gemein­wohls. Und dar­um gehört die­se Initia­ti­ve wuch­tig abgelehnt.

Autor: Wal­ter Langenegger/​Titelbild: Gewerk­schaft Verdi

Wei­te­re Bei­trä­ge zum The­ma AHV: 

  

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