
Oktober 2022. Plötzlich war sie da: die Inflation. Sie traf Politik und Wirtschaft unvorbereitet, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr eine Rolle gespielt hatte. Bürgerliche und Wirtschaftslobby malten umgehend das Schreckgespenst der Lohn-Preis-Spirale an die Wand und riefen Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen mit Blick auf die Lohnverhandlungen auf, sich im Interesse der Inflationsbekämpfung in Mässigung und Verzicht zu üben. Doch so rasch der Appell lanciert wurde, so falsch ist er auch.
Teuerung ist geschuldet
Erstens verlangt der Appell nichts weniger, als dass die Beschäftigten eine Reallohn-Kürzung hinnehmen sollen. Denn darauf läuft es hinaus, wenn die Teuerung nicht ausgeglichen wird: Dann müssten die Arbeitnehmenden ihre bisherige Arbeitsleistung zu einem Lohn erbringen, für den sie sich immer weniger kaufen können. Und zweitens versucht die Wirtschaftslobby mit dem Kampfbegriff der Lohn-Preis-Spirale, die Lasten der Inflationsbekämpfung so weit wie möglich auf die 5,4 Millionen Beschäftigten in der Schweiz zu überwälzen. Denn wenn sie verzichteten, dämpfte dies tatsächlich die Preissteigerungen.
Beides ist jedoch unredlich. Erstens ist es insbesondere die grosse Masse der Lohnabhängigen mit tiefen und mittleren Einkommen, die besonders stark unter der Teuerung leiden. Darum ist es auch nicht fair, ausgerechnet von ihnen Lohnopfer einzufordern. Und zweitens sind es nicht die Beschäftigten, die im Kampf gegen die Inflation in der Verantwortung stehen. Sie sind weder Aktionäre, Eigentümer noch Entscheidungsträger und daher auch nicht diejenigen, die unternehmerische Risiken oder volkswirtschaftliche Verantwortung zu tragen haben.
Vielmehr sind die Beschäftigten lediglich Vertragspartner im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Das ist ihre Stellung, nichts anderes. Und darum ist die Teuerung geschuldet. Wird sie nicht oder nur teilweise gewährt, dann ist dies de facto ein Vertragsbruch, weil die Beschäftigten nicht den abgemachten Lohn für die verlangte Arbeitsleistung erhalten. Vor diesem Hintergrund ist es daher augenfällig: Der automatische Teuerungsausgleich müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Wohlstandsverlust verhindern
Doch nicht nur aus Sicht der Beschäftigten ist der Teuerungsausgleich eine Notwendigkeit, sondern auch aus volkwirtschaftspolitischen Gründen. Denn je mehr Branchen und Wirtschaftszweige sich gegen eine inflationsbedingte generelle Erhöhung der Löhne wehren, desto grösser wird das Risiko eines Wohlstandsverlustes auf breiter Front. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Werden die Löhne von der Geldentwertung aufgefressen, sinkt die Kaufkraft. Dies wiederum schmälert Nachfrage und Konsum, was sich negativ auf Umsätze und Investitionen auswirkt und früher oder später in eine Rezession mit Betriebsschliessungen und Arbeitsplatzabbau mündet.
Das bestätigen auch die Erfahrungen aus den 70er- und 80er-Jahren. Im Zuge der damaligen anhaltend hohen Inflationsraten ging immer mehr Branchen und Wirtschaftszweige nach jahrelangem Ringen mit den Gewerkschaften sukzessive dazu über, ihren Angestellten einen automatischen Teuerungsausgleich zu gewähren. Das führte schliesslich dazu, dass 1990 rund zwei Drittel aller Gesamtarbeitsverträge entsprechende Regelungen enthielten. Der Teuerungsausgleich wurde damit als fester Bestandteil der Lohnfindungen breit etabliert. Er schützte die Löhne, sicherte Kaufkraft und half mit, das Land in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu stabilisieren.
Öffentliche Hand als Vorbild
Angesichts der jetzt steigenden Konsumentenpreise ist es daher ratsam, aus den damaligen Erfahrungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das gilt etwa für den Staat als einen der wichtigsten Arbeitgeber. Gehen Bund, Kantone und Gemeinden mit gutem Beispiel voran und gewähren den vollen Teuerungsausgleich, wie dies etwa jüngst der Kanton Zürich getan hat, so erhöht sich damit selbstredend der Druck auf die Wirtschaft, ebenfalls nachzuziehen. Denn sonst riskiert der private Sektor im Kampf um qualifiziertes und motiviertes Personal, den Kürzeren zu ziehen. Dies gilt umso mehr, als derzeit ohnehin ein Fachkräftemangel herrscht.
Über den nötigen finanziellen Spielraum für den Teuerungsausgleich verfügen sowohl die öffentliche Hand als auch die allermeisten Unternehmen. Zunächst zum Staat: Hier ist nicht zu unterschätzen, dass mit der Inflation auch das Steuervolumen wächst. So bringen etwa höhere Preise automatisch höhere Erträge bei der Mehrwertsteuer. Gleichzeitig reduziert sich die staatliche Verschuldung. Denn die Schulden bleiben nominal die gleichen, während die Steuereinnahmen steigen. Das funktioniert so lange, wie dafür gesorgt werden kann, dass die Wirtschaft keinen Einbruch erleidet und die Zinsen nicht massiv angehoben werden.
Sodann zu den Unternehmen: Sie haben in den letzten 20 Jahren fast ununterbrochen gute Gewinne erzielt und präsentieren sich meist als finanziell gesund, dies nicht zuletzt dank der Staatshilfen während der Pandemie. Zudem belegen diverse Studien, dass der Spielraum für Lohnerhöhungen in den vergangenen Jahren in der Privatwirtschaft nie voll ausgeschöpft wurde und die Löhne langsamer stiegen als die Produktivität. Es existiert also ohnehin ein Nachholbedarf.
Notenbank ist gefordert
Dies alles freilich stoppt die Teuerung keineswegs; im Gegenteil, es heizt sie an. Doch das ist ein Problem, das die Nationalbank zu bewältigen hat. Sie ist es in erster Linie, die verantwortlich ist für die Inflationsbekämpfung. Es liegt an ihr, mit zinstechnischen Massnahmen den Preisanstieg zu dämpfen und für Preisstabilität zu sorgen, ohne die Konjunktur abzuwürgen und eine Rezession zu verursachen. Sie allein hat die geldpolitischen Mittel dazu.
In der Lage, Gegensteuer zu geben, wären bei viel gutem Willen und dank ihrer Marktmacht allerdings auch die grossen Unternehmen und Konzerne. Dazu müssten sie freiwillig darauf verzichten, die Preissteigerungen für ihre Produkte und Dienstleistungen eins zu eins weiterzugeben, und bereit sein, geringere Gewinnmarchen in Kauf zu nehmen. Doch das bleibt wohl ein frommer Wunsch. Denn solange die Konsumenten die Preissteigerungen schlucken, werden die Unternehmen – getreu der Logik des Marktes – das Maximum an Gewinnen abschöpfen.
Und gerade dies ist ein letzter guter Grund für den Teuerungsausgleich: Er sorgt dafür, dass sich die Beschäftigten in den Unternehmen immerhin ihren Anteil am Gewinn sichern können.
Walter Langenegger