
April 2023. Wer kommt schon auf den Gedanken, den „Rauen Berg“ an der Stiefelspitze Italiens beziehungsweise den Aspromonte im Süden Kalabriens zu erwandern? Nur wenige, verständlicherweise. Wer an Kalabrien denkt, denkt an Meer und Sonne, nicht an Berge und Wanderschuhe. Und doch verbirgt das wilde Bergmassiv viel Überraschendes und Entdeckungswürdiges, sowohl landschaftlich und geologisch wie auch geschichtlich und kulturell. Insofern ist der Aspromonte in der Tat ein echter Geheimtipp.
Wahrzeichen des 2021 zum Unesco-Geopark erklärten Gebirges ist die Pietra Cappa, der höchste Monolith Europas im „Tal der Grossen Steine“. Wie der kahle Kopf eines urzeitlichen Riesen ragt die gigantische Felskuppel weit über die tiefen Täler, die Bergrücken und Hochebenen empor und verkündet damit, was hier das Einzigartige ist: eine seltene Geologie mit den unterschiedlichsten Gesteins- und Felsformationen, entstanden durch den Druck der afrikanischen Platte und der seit Millionen Jahren anhaltenden Wanderung von Apennin- und Alpenkette. Sie waren die Mächte, die diesem Gebirge zwischen ionischem und tyrrhenischem Meer mit seinen bis zu 2000 Meter hohen und im Winter schneebedeckten Spitzen erschaffen haben und ihm seine Gestalt gaben.
Von karg bis lieblich
Sein Gewand hat der Aspromonte allerdings nicht von den tektonischen Kräften, sondern vom Menschen mit seinem Raubbau. Das Land ist trocken und karg, geschunden durch Erosion. Es waren die Römer, die das einst dicht bewaldete Gebiet zum Bau ihrer Flotten abholzten. Der Regen spülte die Erde hinunter an die Küsten, wo sich Sümpfe bildete und sich die Malaria ausbreitete. Davor flohen die Menschen in die Berge des Aspromonte, bauten dort in den steilen Hängen ihre Dörfer und lebten vom wenigen, was das Land an Früchten und Weiden hergab.
Und so präsentiert sich auch die Landschaft: an den meisten Orten rau, hart und fordernd, geprägt von steinigen Wasserläufen und spärlicher Vegetation, dazwischen aber auch immer wieder überraschend üppig, fruchtbar und lieblich, von malerischer Schönheit, mit farbigem Blumenmeer und sattgrün dort, wo man es nicht erwartet: in den hohen Lagen. Hier wächst noch jener Wald, der einst das ganze Gebirgsland überzog.
Land der Griechen …
Diese Vielfalt und Abwechslung macht das Wandern im Aspromonte zum Erlebnis – und dies umso mehr, als jeder Schritt durch die Landschaft auch ein Schritt durch Geschichte und Kultur ist. Denn die Region ist antikes Siedlungsgebiet und war einst Teil des alten Griechenlandes. Das Griechische ist heute noch präsent — nicht nur in Form archäologischer Funde wie der berühmten Bronzestatuen von Riace, sondern auch, weil in knapp einem Dutzend Dörfern Griechisch-Kalabrisch gesprochen wird. Das Zentrum dieser rund 2000 Menschen umfassenden Gemeinschaft ist das Städtchen Bova, das auf einer Bergspitze thront und mit seiner Ausrichtung auf die Meeresenge von Messina im Süden und mit seiner Brücke Richtung Aspromonte im Norden gleichsam das Tor zur dahinter liegenden kleinen griechischen Bergwelt darstellt.
Uneins allerdings ist man sich darüber, wo die Herkunft des Griechischen liegt. Manche meinen, die Sprache sei mit dem Byzantinischen Reich etabliert worden, welches hier einst herrschte. Andere indes glauben, eine direkte Verbindung zwischen der griechischen Besiedlung in der Antike bis zur heutigen Zeit zu erkennen.
… und Land der Briganten
In Italien selbst wird der Aspromonte allerdings weniger mit den griechischen Wurzeln in Verbindung gebracht als vielmehr mit dem Brigantentum. Verarmte und verelendete Bauern kämpften im 18. Jahrhundert in Banden gegen reiche Grossgrundbesitzer und raubten, um zu überleben. Das unwegsame Berggebiet diente ihnen als Rückzugsort. Im letzten Jahrhundert war es dann die Ndrangheta, die dem Gebiet mit ihren Machenschaften einen zweifelhaften Ruf einbrachte. Brigantentum wie Mafia machen allerdings auch deutlich, worunter die Menschen bis heute leiden: an Armut und Abwanderung. Auch das wird einem bewusst, wenn man durch den Aspromonte wandert und an verlassenen Siedlungen wie etwa dem Geisterdorf Roghudi vorbeikommt.
Offene Herzen
In gewissem Sinne widerspiegelt die Herbheit der Landschaft somit gleichsam die Härte des Lebens im tiefen Süden Italiens. Doch die Herzen der Menschen sind weit offen. Das spürt man, wenn man mit den Bewohnerinnen und Bewohner in den Dörfern ins Gespräch kommt. Und das alleine ist schon ein guter Grund für eine Reise ins Aspromonte.
REISETIPP: Wer sich über Wanderferien im Aspromonte informieren will, findet mit Frau Sabine Ment eine hervorragende Kennerin der Region. Frau Ment stammt aus der Schweiz, lebt seit vielen Jahren in Kalabrien und bietet Wandertouren im Aspromonte an. Details dazu finden sich unter: http://www.sabinement.com/
Fotos: Sabine Ment und Walter Langenegger