Plä­doy­er für den Mindestlohn

SP und Gewerk­schaf­ten machen Druck: Nach dem Ja in Zürich und Win­ter­thur zum Min­dest­lohn wol­len sie ent­spre­chen­de Initia­ti­ven auch in den Städ­ten Bern, Luzern und Schaff­hau­sen lan­cie­ren. Gut so! Min­dest­löh­ne sor­gen für sozia­le Gerech­tig­keit in der Arbeits­welt. Und: Sie schwä­chen die Wirt­schaft nicht, son­dern im Gegen­teil, sie stär­ken sie. Das aner­kennt inzwi­schen auch die Wis­sen­schaft. Umso mehr gilt es, im Kampf gegen Hun­ger­löh­ne nicht nachzulassen.

Juni 2023. Eigent­lich müss­te der Min­dest­lohn in einem moder­nen und auf­ge­klär­ten Land wie der Schweiz eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein. Denn was damit gefor­dert wird, ist ein­zig, dass die Arbeit eines Men­schen zumin­dest so zu ent­löh­nen ist, dass er damit die Grund­be­dürf­nis­se für ein anstän­di­ges Leben finan­zie­ren kann. Der Min­dest­lohn ist gleich­sam der mini­ma­le Gegen­wert, den mensch­li­che Arbeit in einer zivi­li­sier­ten Gesell­schaft haben muss.

Wird dies nicht gewährt, ist das Aus­beu­tung. Der Mensch wird dazu ver­ur­teilt, unter sei­nem Wert zu arbei­ten. Wir ver­wei­gern ihm damit, sich sei­nen Lebens­un­ter­halt aus eige­ner Kraft zu ver­die­nen, stür­zen ihn in Not und Elend und ent­wür­di­gen ihn, zumal wir uns in unse­rer Arbeits­ge­sell­schaft in wesent­li­chem Mas­se über die Arbeit und den Lohn definieren.

Unwer­te Arbeit

Dar­um ist der Ver­zicht auf einen Min­dest­lohn durch nichts zu recht­fer­ti­gen – auch nicht damit, dass wir in einer von Nach­fra­ge und Ange­bot gesteu­er­ten Markt­wirt­schaft leben. Denn: Der Mensch ist kei­ne Ware. Er hat Grund­rech­te. Und dar­um ist auch der Wert sei­ner Arbeit nur bedingt Ver­hand­lungs­sa­che. Die Gren­ze ist dort zu zie­hen, wo die Arbeit nicht mehr zum Leben reicht. Tut sie das nicht, ist sie es nicht wert, dass der Mensch sie aus­führt. Das müss­te in unse­rer Gesell­schaft die Maxi­me sein.

Dass sie das nicht ist, hat mit der Wirt­schaft und der Wirt­schafts­wis­sen­schaft zu tun. Ihren Reprä­sen­tan­ten gelang es bis in die jüng­ste Zeit hin­ein, von der sozia­len und mora­li­schen Fra­ge der Aus­beu­tung abzu­len­ken, indem sie pseu­do­öko­no­misch argu­men­tier­ten: näm­lich, dass der Min­dest­lohn angeb­lich Arbeits­plät­ze ver­nich­tet. Ein Nar­ra­tiv mit fata­ler Wir­kung: Denn nichts fürch­tet unse­re Arbeits­ge­sell­schaft mehr als den Jobverlust.

Täter statt Opfer?

Fatal ist die­ses Nar­ra­tiv erstens, weil es das Opfer zum Täter macht: Es unter­stellt dem Schwa­chen, mit sei­ner Min­dest­lohn-For­de­rung dafür ver­ant­wort­lich zu sein, dass Unter­neh­men ihre Prei­se erhö­hen, mög­li­cher­wei­se Leu­te ent­las­sen oder gar schlie­ßen müs­sen und damit der Gesell­schaft scha­den. Schul­dig sind also jene, die einen anstän­di­gen Lohn ver­lan­gen und nicht jene, die Hun­ger­löh­ne zahlen?

Fatal ist die­ses Nar­ra­tiv zwei­tens, weil damit der Begriff Arbeit und damit die Tätig­keit an sich in einer abwe­gi­gen Art und Wei­se über­höht und ver­ab­so­lu­tiert wird. Jede Arbeit ist nach die­ser Les­art immer das ein­zig erstre­bens­wer­te und allem ande­ren vor­zu­zie­hen – selbst dann, wenn die­se Arbeit aus­beu­te­risch und ent­wür­di­gend ist. Arbeit also als gott­ge­ge­be­ner, unan­tast­ba­rer mora­lisch-gesell­schaft­li­cher Wert, unab­hän­gig davon, wie sehr sie dem Indi­vi­du­um und der Gesell­schaft schadet?

Abstrus und abwe­gig: Das war die bis­he­ri­ge Lehr­mei­nung! Das hat inzwi­schen nicht nur die neue­re Arbeits­markt­for­schung rea­li­siert. Viel­mehr zeigt dies auch die Rea­li­tät in der Schweiz.

Kor­rek­tur in der Wissenschaft

Zunächst zur Wis­sen­schaft: Ent­schei­dend war hier die Arbeit des kana­di­schen Nobel­preis­trä­gers David Card. Er kam 1992 zum Schluss, dass der Min­dest­lohn kein Job­kil­ler ist und lei­te­te damit einen Para­dig­ma­wech­sel ein. Hun­der­te von For­schen­den zogen nach und bestä­tig­ten den Befund: Min­dest­löh­ne ver­min­dern Ungleich­heit und Armut und haben kaum Aus­wir­kun­gen auf die Beschäf­ti­gung. Einen Schritt wei­ter gin­gen 2021 die deut­schen Wis­sen­schaft­ler Tom Krebs und Moritz Drech­sel-Grau: Sie wie­sen nach, dass die Anhe­bung des Min­dest­loh­nes in Deutsch­land auf zwölf Euro nicht nur den Lohn von Mil­lio­nen in den unte­ren Lohn­seg­men­ten auf­bes­ser­te, son­dern auch die Wirt­schafts­kraft stei­ger­te und zu höhe­ren Steu­er­erträ­gen führte.

Kol­laps fand nicht statt

Sodann zur Schweiz, wo nach dem Volks-Nein zu einem natio­na­len Min­dest­lohn 2014 die Kan­to­ne Jura, Tes­sin, Basel-Stadt, Neu­en­burg und Genf den Allein­gang wag­ten: Sie alle stel­len heu­te fest: Der Wirt­schafts­kol­laps blieb aus. Viel­mehr tut der Min­dest­lohn das, was er tun soll: Men­schen zu einem anstän­di­gen Leben ver­hel­fen. Das zeigt sich etwa im Kan­ton Neu­en­burg: Preis­stei­ge­run­gen fan­den nicht statt, eben­so wenig kam es zu Ent­las­sun­gen; statt­des­sen gin­gen die Arbeits­lo­sig­keit und der Bedarf an Sozi­al­hil­fe zurück. Ähn­li­ches stellt Genf mit sei­nem welt­weit höch­sten Min­dest­lohn von 24 Fran­ken pro Stun­de fest: Über 30’000 Men­schen pro­fi­tie­ren heu­te davon, dies ohne nega­ti­ve Auswirkungen.

Gerin­ge Kosten, gro­sse Wirkung

Wes­halb dies so ist, liegt für die moder­ne Arbeits­markt­for­schung auf der Hand: Der Kosten­an­stieg durch den Min­dest­lohn ist in den mei­sten Betrie­ben im Ver­hält­nis zur gesam­ten Lohn- und Kosten­sum­me eher gering, wie Micha­el Sie­gen­tha­ler, Exper­te bei der Kon­junk­tur­for­schungs­stel­le KOF, kürz­lich im SP-Maga­zin “Direkt” dar­leg­te. Bei­spiel Detail­han­del: Hier machen die Lohn­ko­sten schät­zungs­wei­se ein Fünf­tel der Gesamt­ko­sten aus. Erhal­ten die schlecht bezahl­ten Mit­ar­bei­ten­den etwas mehr Lohn, so erhöht sich die Gesamt­ko­sten­sum­me nur unwe­sent­lich. Eine Über­wäl­zung auf den Kon­su­men­ten lohnt sich daher womög­lich nicht. Und wenn doch, ist die Preis­stei­ge­rung beim Ein­kauf kaum spürbar.

Alle pro­fi­tie­ren

Dar­über hin­aus stim­men die in den fünf Kan­to­nen gemach­ten Erfah­run­gen mit den Befun­den der neue­ren For­schung über­ein: Min­dest­löh­ne ste­hen einer moder­nen Gesell­schaft nicht nur aus ethisch-mora­li­schen Grün­den gut an, son­dern wir­ken sich in der Regel auch in öko­no­mi­scher Hin­sicht posi­tiv auf Wirt­schaft und Gesell­schaft aus.

Das gilt etwa in Bezug auf Kauf­kraft und Wirt­schafts­wachs­tum. Min­dest­löh­ne ver­bes­sern die Kauf­kraft der unte­ren Lohn­seg­men­te und haben zudem eine posi­ti­ve Wir­kung auf die knapp dar­über lie­gen­den Löh­ne. Da die höhe­re Kauf­kraft in den tie­fen Ein­kom­mens­klas­sen nicht aufs Spar­kon­to, son­dern direkt in den Lebens­un­ter­halt fliesst, sti­mu­liert dies die Nach­fra­ge nach Gütern und Dienst­lei­stun­gen. Und dies wie­der­um kur­belt die Wirt­schaft zusätz­lich an.

Glei­ches gilt für die Pro­duk­ti­vi­tät: Der Min­dest­lohn trägt dazu bei, sie zu erhö­hen. Er zwingt die Unter­neh­men näm­lich, haus­häl­te­ri­scher mit der Res­sour­ce Arbeit umzu­ge­hen, und mit den Mit­ar­bei­ten­den, die sie haben, mehr und effi­zi­en­ter zu pro­du­zie­ren, indem sie in Tech­no­lo­gie und Wei­ter­bil­dung inve­stie­ren. Hin­zu kommt, dass bes­se­re Löh­ne die Moti­va­ti­on erhö­hen und damit auch Lei­stungs­be­reit­schaft – was der Pro­duk­ti­vi­tät eben­falls för­der­lich ist.

Gleich­zei­tig ver­rin­gert der Min­dest­lohn die Abhän­gig­keit von Sozi­al­lei­stun­gen. Wo fai­re Löh­ne gezahlt wer­den, besteht der Anreiz, sei­nen Lebens­un­ter­halt eigen­stän­dig zu bestrei­ten und auf Sozi­al­hil­fe zu ver­zich­ten. Das bedeu­tet: weni­ger staat­li­che Lohn­zu­schüs­se, weni­ger Arbeits­markt­bü­ro­kra­tie, weni­ger Armuts­ver­wal­tung – und weni­ger Sozi­al­ko­sten für den Staat.

Hart­näcki­ge Vorurteile

Wäh­rend die­se Fak­ten heu­te in den mei­sten EU-Län­dern aner­kannt und staat­li­che Min­dest­löh­ne ein Bestand­teil der Wirt­schafts­ord­nung sind, hal­ten sich in der Schweiz die alten Vor­ur­tei­le hart­näckig. Vor­stö­sse zur Ein­füh­run­gen von Min­dest­löh­nen schei­tern in den Kan­to­nen immer wie­der, viel­fach schon in den Par­la­men­ten oder dann an der Urne, wie 2018 im Kan­ton St.Gallen. Und im Bun­des­par­la­ment plant die bür­ger­li­che Mehr­heit der­zeit, die gel­ten­den städ­ti­schen und kom­mu­na­len Min­dest­löh­ne zu über­steu­ern und zu unter­mi­nie­ren, indem schlech­te Löh­ne wei­ter­hin mög­lich sein sol­len, wenn die­se in einem Gesamt­ar­beits­ver­trag (GAV) so fest­ge­schrie­ben sind.

Bern und Luzern im Fokus

Umso wich­ti­ger sind daher die geplan­ten Initia­ti­ven in den Städ­ten Bern und Luzern. Wenn es SP und Gewerk­schaf­ten in die­sen Städ­ten gelingt, wie in Zürich und Win­ter­thur stadt­weit eine gerech­te Lohn­un­ter­gren­ze durch­zu­set­zen, schwä­chen sie nicht nur die bür­ger­li­che Mehr­heits­po­si­ti­on im Bun­des­haus. Son­dern sie stär­ken damit auch die Stel­lung von Gewerk­schaf­ten und Arbeit­neh­men­den-Orga­ni­sa­tio­nen in den GAV-Verhandlungen.

Das wäre wich­tig: für die Betrof­fe­nen selbst, für die Beschäf­ti­gungs­la­ge und die Kauf­kraft ins­ge­samt – und für eine Poli­tik, deren Fokus dar­auf lie­gen muss, dass die Wirt­schaft kein Selbst­zweck ist, son­dern den Men­schen zu die­nen hat.

Autor: Wal­ter Langenegger

Bild: pix­a­bay / Katha­ri­na Kammermann

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