Unten Opfer, oben Geschenke

August 2022. Um sich eine poli­ti­sche Mei­nung zu bil­den, ist es zuwei­len sinn­voll, ein paar Schrit­te zurück­zu­tre­ten, sich vom Fokus auf das ein­zel­ne Geschäft zu lösen und statt­des­sen das Gan­ze aus Distanz zu betrach­ten. Das hilft, die Kon­tu­ren kla­rer zu erken­nen und das Wesent­li­che zu erfassen.

Die Gele­gen­heit dazu haben wir dem­nächst am 25. Sep­tem­ber. Es mag ein Zufall in der par­la­men­ta­ri­schen Ver­fah­rens­pla­nung sein — bezeich­nend ist es gleich­wohl: Aus­ge­rech­net an jenem Sonn­tag, an dem wir mit der AHV21 über einen Abbau der Ren­ten befin­den, sind wir mit der Vor­la­ge zur Ver­rech­nungs­steu­er auch auf­ge­ru­fen, Kon­zer­nen und Ver­mö­gen­den Steu­ern zu sen­ken. So wird offen­kun­dig, was hier geschieht: Oben wer­den Geschen­ke ver­teilt, unten Opfer abver­langt. Genau die­sem Muster ent­spricht die­ser Abstimmungssonntag.

AHV-Abbau auf Vorrat

Tat­sa­che ist: Die AHV21 ist eine Abbau­vor­la­ge. Sie trifft nicht nur die Frau­en, son­dern eine Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Mit dem Ren­ten­al­ter 65 ver­lie­ren die Frau­en ein Jahr AHV-Ren­te, obwohl sie in der Alters­vor­sor­ge schlech­ter gestellt sind als die Män­ner. Wegen schlech­te­rer Erwerbs­chan­cen, tie­fe­rer Löh­ne und häu­fi­ge­rer Teil­zeit­ar­beit sind sie in der zwei­ten Säu­le nicht oder nur unzu­rei­chend abge­si­chert. Es ist höchst unred­lich, wenn die Bür­ger­li­chen die­se Tat­sa­che aus­blen­den und so tun, als bestün­de kein Zusam­men­hang zwi­schen AHV und Pen­si­ons­kas­se. Denn am Schluss zählt, was im Porte­mon­naie ist. Und da ist bei den Frau­en wenig drin. 

Dar­über hin­aus ver­langt die AHV21 auch Opfer von uns allen ab. Stich­wort Ehe­paar: Es trifft auch den Ehe­mann, wenn sei­ner Frau ein Ren­ten­jahr gestri­chen wird, weil damit das Ren­ten­ein­kom­men des Ehe­paa­res ins­ge­samt gekürzt wird. Stich­wort Arbeits­lo­sig­keit: Die 55- bis 65-jäh­ri­gen sind heu­te schon häu­fi­ger von Lang­zeit­ar­beits­lo­sig­keit betrof­fen und wür­den mit der AHV21 noch stär­ker dar­un­ter lei­den. Stich­wort Mehr­wert­steu­er-Erhö­hung: Sie ist eine unso­zia­le Kopf­steu­er, wel­che die unte­ren und mitt­le­ren Ein­kom­men bela­stet und die Infla­ti­on verschärft.

Und das alles ohne Not. Denn die AHV ist nach wie vor soli­de finan­ziert. Der Fond ist gefüllt und die Ein­nah­men stei­gen trotz immer mehr Rent­ne­rin­nen und Rent­nern. Wes­halb das so ist, wird von der bür­ger­li­chen Mehr­heit seit Jahr­zehn­ten aus poli­ti­schem Kal­kül negiert. Doch das ändert nichts an den Fak­ten: Für die AHV-Finan­zen spielt die Demo­gra­fie nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Viel wich­ti­ger sind Pro­duk­ti­vi­tät und Wachs­tum. Und die stei­gen Jahr für Jahr. Und des­halb erhö­hen sich auch die Ein­nah­men trotz Überalterung.

Ein Opfer von jähr­lich 2,5 Milliarden

Unter dem Strich ver­langt das bür­ger­li­che Par­la­ment mit der AHV21, dass wir jähr­lich 1,7 Mil­li­ar­den Fran­ken spa­ren. Wir sol­len mehr zah­len und weni­ger haben. Gleich­zei­tig geht das glei­che Par­la­ment hin und will die Ver­rech­nungs­steu­er auf Obli­ga­tio­nen strei­chen und damit den Kon­zer­nen und Gross­an­le­gern eine jähr­li­che Steu­er­be­frei­ung von schät­zungs­wei­se bis zu 800 Mil­lio­nen Fran­ken gewäh­ren. Das heisst, die Bevöl­ke­rung soll auf einen Schlag jähr­lich ein Opfer von 2,5 Mil­li­ar­den Fran­ken erbrin­gen, indem es sich selbst die Ren­ten kürzt und einer klei­nen finanz­star­ken Grup­pe steu­er­li­che Son­der­rech­te einräumt.

Steu­er­hin­ter­zie­hung legalisieren?

Bedenk­lich sind die­se Son­der­rech­te erstens, weil das Par­la­ment damit rei­ne Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen befrie­digt. Mit der Reform der Ver­rech­nungs­steu­er wer­den ganz spe­zi­fisch nur rund 200 Kon­zer­ne begün­stigt. Alle ande­ren Gewer­be­be­trie­be und Unter­neh­men haben gar nichts davon, weil sich die­se nicht wie die Kon­zer­ne über Obli­ga­tio­nen finan­zie­ren. Von den gün­sti­ge­ren Anlei­hen und höhe­ren Gewin­nen wie­der­um pro­fi­tie­ren auf der Anle­ger­sei­te vor allem aus­län­di­sche Invest­ment­ban­ken und Grossanleger.

Bedenk­lich ist zwei­tens, dass mit der Vor­la­ge die Steu­er­kri­mi­na­li­tät geför­dert wird. Sinn und Zweck der Ver­rech­nungs­steu­er ist es, die Steu­er­hin­ter­zie­hung ein­zu­däm­men, indem vor­ne­weg 35% des Zins­er­trags abge­zo­gen und erst zurück­er­stat­tet wird, wenn das Kapi­tal dekla­riert wur­de. Doch mit der Reform wird die Ver­rech­nungs­steu­er in ihr Gegen­teil ver­kehrt: Steu­er­hin­ter­zie­hung wird legalisiert.

Als Recht­fer­ti­gung dafür dient dem bür­ger­li­chen Par­la­ment ein­mal mehr die neo­li­be­ra­le Trick­le-down-Theo­rie: Die­se sug­ge­riert, dass die Finanz­in­du­strie dank der Erschlie­ssung neu­er Geschäfts­fel­der län­ger­fri­stig wie­der mehr Steu­ern zah­len wür­den. Doch das ist ein lee­res Ver­spre­chen, wie sich immer wie­der gezeigt hat. Am Schluss bleibt immer die Bevöl­ke­rung auf der Rech­nung sitzen.

Wehrt sich die Mehrheit? 

Vor die­sem Hin­ter­grund müss­te eigent­lich kein Zwei­fel dar­an bestehen, dass die AHV21 und die Ver­rech­nungs­steu­er-Vor­la­ge kei­ne Chan­ce bei der Mehr­heit der Stimm­be­rech­tig­ten haben soll­te. Denn bei einem Ja wür­den all jene Men­schen in der Schweiz zu den Ver­lie­rern gehö­ren, die ein Jah­res­ein­kom­men von maxi­mal 110‘000 Fran­ken haben, die nicht ver­mö­gend sind und die nie ein Mil­lio­nen­er­be antre­ten wer­den. Und das ist die gro­sse Mehrheit.

Es ist die­se Mehr­heit, die heu­te weni­ger AHV-Bei­trä­ge ein­zahlt, als sie im Alter in Form einer Ren­te erhält, weil das AHV-Gesetz Top­ver­die­ner bis­her erfolg­reich dazu zwingt, mehr ein­zu­zah­len, als sie je bezie­hen kön­nen. Und es ist die­se Mehr­heit, die den Abbau öffent­li­cher Dienst­lei­stun­gen direkt zu spü­ren bekommt, wenn Bund, Kan­to­nen und Gemein­den wegen der Steu­er­ge­schen­ke für Ban­ken und Finanz­in­sti­tu­te die Mit­tel feh­len. Die­ser Mehr­heit müss­te spä­te­stens an die­sem Punkt klar sein: Alles, was wir mit die­sen bei­den Vor­la­gen ver­än­dern, führt zu einer mate­ri­el­len Schlech­ter­stel­lung der mei­sten Men­schen in der Schweiz.

Nicht für, son­dern gegen die Zukunft

Das müs­sen sich vor allem auch jene bewusst sein, die sich mit dem Gedan­ken tra­gen, den bei­den Refor­men zuzu­stim­men im red­li­chen Glau­ben, dass sie mit ihrem Spar­op­fer die Zukunft der näch­sten Gene­ra­tio­nen sichern. Das Gegen­teil ist der Fall: Was wir heu­te den tie­fen und mitt­le­ren Ein­kom­men an Lasten auf­bür­den, wird die kom­men­den Gene­ra­tio­nen dop­pelt bela­sten. Wir sor­gen damit nicht vor, son­dern demon­tie­ren den Sozi­al­staat auf Vor­rat, zwin­gen die Jun­gen damit zur pri­va­ten und teu­ren Alters­ab­si­che­rung und ver­rin­gern auf die­se Wei­se die mate­ri­el­len Chan­cen der zukünf­ti­gen Generationen.

Doch ob die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung dies am 25. Sep­tem­ber erkennt, ist alles ande­re als gewiss. Skep­sis ist ange­bracht. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Mehr­heit des Schwei­zer Vol­kes aus lau­ter Angst­ma­che­rei der bür­ger­li­chen Par­tei­en dazu ver­lei­ten lässt, gegen die eige­nen Inter­es­sen zu stimmen.

Wal­ter Langenegger

 

 

 

 

 

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