Die Städte Zürich und Winterthur gingen voran, nun folgt die Stadt Bern: Nachdem erstere sich im letzten Jahr an der Urne überraschend klar für einen gesetzlichen Mindestlohn ausgesprochen haben, lanciert nun auch die Linke in der Hauptstadt eine entsprechende Initiative. Und das ist gut so. Denn die Sozial- und Verteilungspolitik muss in den Städten wieder mehr Bedeutung erhalten.
Bern, 1. Mai 2024. Eine Berufsarbeit muss im Minimum existenzsichernd sein. Alles andere ist sozialpolitisch und ökonomisch nicht zu rechtfertigen. Dementsprechend die Forderung der Stadtberner Initiative für einen sozialpolitisch begründeten gesetzlichen Mindestlohn: Auf dem Gebiet der Stadt Bern soll eine Stunde Arbeit mindestens 23.80 Franken wert sein. Alles, was darunter liegt, soll künftig nicht mehr zulässig sein – dies auch mit Blick auf die Gesamtarbeitsverträge: Der Mindestlohn gilt auch für diese und kann nicht unterlaufen werden. Damit soll eine Aushöhlung des gesetzlichen Minimums verhindert und die Verhandlungsposition der Gewerkschaften gestärkt werden.
Diese Forderung ist gerechtfertigter denn je. Laut Studien des Gewerkschaftsbundes stagnieren die unteren und mittleren Löhne in der Schweiz seit Jahren, während die hohen Einkommen nach wie vor stark steigen. Das Resultat davon ist ein deutlicher Kaufkraftverlust der breiten Bevölkerung. De facto sind die Reallöhne gesunken und tiefer als 2015. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass in der Schweiz rund die Hälfte der Beschäftigten in Branchen ohne Gesamtarbeitsverträge tätig sind.
Tieflohnsektor nimmt wieder zu
Besonders betroffen davon sind selbstredend die Menschen im Tieflohnbereich. Auswertungen der Gewerkschaft Unia etwa zeigen, dass der Tieflohnsektor mit Löhnen unter 4‘4000 Franken aufgrund schlechter Lohnabschlüsse und der Teuerung wieder zugenommen hat, vor allem im Gastgewerbe, in der Reinigung, in der Coiffeur- und Kosmetikbranche und im Detailhandel.
Betroffen von Tieflöhnen sind alle Altersklassen. Weit verbreitet sind sie bei den Beschäftigten unter 25 Jahre, darunter auch Berufsleute mit abgeschlossener Lehre. Rund ein Drittel von ihnen verdient keinen oder nur einen knapp existenzsichernden Lohn. Bei den über 55-Jährigen sind es weniger, allerdings immer noch neun Prozent.
Griffiges Instrument
Dagegen sind Mindestlöhne ein überaus effektives und griffiges Instrument. Zu diesem Schluss kommt heute auch die Arbeitsmarktforschung. Eine Vielzahl von Studien zeichnen ein klares Bild zugunsten von Mindestlöhnen. Denn Mindestlöhne stärken die Kaufkraft der unteren Lohnsegmente, stimulieren die Nachfrage, schaffen Anreize für Investitionen in Technologie und Bildung und entlasten die Sozialhilfe. Das führt zu höherer Produktivität und mehr Wirtschaftswachstum.
Negative Auswirkungen auf die Beschäftigung oder auf das Preisniveau haben Mindestlöhne indes praktisch keine. Das zeigen auch die bisherigen Erfahrungen mit den gesetzlichen Mindestlöhnen in den Kantonen. In Genf etwa nahm die Arbeitslosigkeit trotz vergleichsweise hohem Mindestlohn nicht zu. Stattdessen verbesserte sich die Einkommenssituation für rund 30‘000 Beschäftigte.
Juristischer Streit
Auch juristisch dürfte ein sozialpolitischer begründeter Mindestlohn in den Städten letztlich durchsetzbar sein. Denn zwar versuchen Bürgerliche und Wirtschaftsverbände alle rechtlichen Register gegen ein gesetzliches Minimum zu ziehen. Doch hat das Bundesgericht bereits alle bestehenden Mindestlöhne in den Kantonen Genf, Neuenburg, Tessin, Jura und Basel-Stadt als zulässig beurteilt. Ähnlich äusserte sich jüngst auch der Bundesrat. So bezeichnete er die Motion des Mitte-Ständerats Erich Ettlin, welche auf eine Aushebelung der kantonalen Mindestlöhne abzielt, als nicht verfassungskonform. Gleiches dürfte auch für Mindestlöhne auf kommunaler Ebene gelten: So hat ein vom Stadtberner Initiativkomitee in Auftrag gegebene juristische Gutachten kommt zum Schluss, dass der Stadt Bern „das Recht zusteht, Mindestlohnvorschriften zu erlassen“.
Autor: Walter Langenegger
Logo: Initiativekomitee
ARGUMENTE FÜR DEN MINDESTLOHN
Die wichtigsten Arguemente zugunsten eines gesetzlichen Mindestlohnes für die Stadt Bern:
Was verlangt die Mindestlohn-Initiative?
Die Initiative verlangt einen sozialpolitisch begründeten gesetzlichen Mindestlohn von brutto 23.80 Franken pro Stunde für alle Arbeit-nehmenden, die vollumfänglich oder mehrheitlich in der Stadt Bern tätig sind. Hinzu kommen Ferien- und Feiertagsentschädigungen. Der Mindestlohn kann in 13 Monatslöhnen ausbezahlt werden. Er richtet sich nach den kantonalen gesetzlichen Vorgaben und orientiert sich in seiner Ausgestaltung an jenem in den Städten Zürich und Winterthur.
Bleibt der Stundenlohn fix bei 23.80 Franken?
Nein. Der Mindestlohn wird gegebenenfalls jährlich auf den 1. Januar angepasst. Bestimmend dafür sind die Entwicklung der Jahresteuerung gemäss dem Landesindex der Konsumentenpreise sowie die Entwicklung der Nominallöhne. Steigen diese, erhöht sich auch der Mindestlohn. Basis des Indexes ist der Indexstand am 1. Januar 2025.
Weshalb ist der Mindestlohn auf 23.80 Franken festgelegt worden?
Dieser Betrag leitet sich von den kantonalen Ergänzungsleistungen ab und setzt sich wie folgt zusammen: Allgemeiner Lebensbedarf 20‘100 Fr., Miete 17’400 Fr., Krankenkassenprämien 4‘404 Fr., Sozialversicherungsbeiträge: 9‘791 Fr. = Bruttolohn (basierend auf 41.6 Stunden/Woche) von 51‘696 Franken. Das ergibt einen Monatslohn von 4‘308 Fr. und einen Stundenlohn von 23.80 Franken.
Warum braucht es einen städtischen Mindestlohn?
In der Stadt Bern erhalten schätzungsweise 8‘000 bis 10‘000 Personen bei einem 100%-Pensum einen Monatslohn von unter 4‘000 Franken. Das reicht kaum zum Leben. Das Existenzminimum beläuft sich gemäss den Ergänzungsleistungen des Kantons Bern auf rund 4‘300 Franken (siehe oben). Daran orientiert sich der Stundenlohn von 23.80 Franken. Ziel ist, dass alle ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten können und niemand trotz Arbeit in die Armut getrieben wird.
Wer ist von Tiefstlöhnen betroffen?
In der Schweiz leben rund 157‘000 Working Poor. Sie arbeiten im Detailhandel, in der Gastronomie, in der Reinigung, im Coiffeur- und Kosmetikgewerbe oder in der Logistikbranche, sind häufig von Schicht‑, Nacht- und Wochenendarbeit sowie von „Arbeit auf Abruf“ betroffen und müssen oft mehrere Jobs ausüben. Auch im Alter haben sie meist nicht genug zum Leben, weil ihnen eine nur geringe Rente zur Verfügung steht. Betroffen sind vor allem Frauen. Doppelt so viele Frauen wie Männer erhalten Tieflöhne. In diesem Bereich zeigt sich die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau am deutlichsten.
Nehmen die Löhne im Tielfohn-Sektor nicht zu?
Auswertungen der Gewerkschaft Unia zeigen, dass der Tieflohn-Sektor mit Löhnen unter 4‘400 Franken seit 2016 aufgrund schlechter Lohn-abschlüsse und der hohen Teuerung nicht zurückgegangen ist.
Welche Ausnahmen sieht die Mindestlohn-Initiative vor?
Keinen Anspruch auf einen Mindestlohn gibt es: bei Lernenden in anerkannten Lehrbetrieben, bei Praktika mit Ausbildungscharakter von höchstens zwölf Monaten, bei Ferienjobs, bei Familienmitgliedern in Familienbetrieben sowie bei staatlich geförderten Programmen zur beruflichen Wiedereingliederung in die Arbeitswelt.
Ist es nicht normal, dass Junge noch nicht so viel verdienen?
Auch Junge haben Anrecht auf existenzsichernde Löhne. Das Problem ist, dass Tieflöhne die Betroffenen das ganze Berufsleben begleiten. Mehr als 60% der Tieflohnbeziehenden sind älter als 30 Jahre. Das ist für die Menschen – ob Jung oder Alt — sehr belastend. Ein Besuch im Kino oder im Restaurant mit der Familie wird so unbezahlbar. Alles leidet darunter.
Mit Praktika werden junge Menschen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Wieso gilt der Mindestlohn nicht für sie?
Die Ausnahme gilt nur für Praktika mit einem klaren Ausbildungscharakter, also für Praktika, die im Rahmen einer formalen Aus- oder Weiterbildung absolviert werden müssen. Die weitverbreiteten sogenannten Praktika, die nach dem formalen Bildungsabschluss von Unternehmen angeboten werden, gelten nicht als Ausnahme und sind daher dem gesetzlichen Mindestlohn unterstellt.
Sind Mindestlöhne nicht Sache der Sozialpartner?
In vielen Gesamtarbeitsverträgen (GAV) sind Mindestlöhne fest-geschrieben. Aber erstens sind nur etwa die Hälfte aller Beschäftigten einem GAV unterstellt. Zweitens gibt es immer noch GAV, bei denen die Mindestlöhne unter oder bei genau 4‘000 Franken im Monat liegen, etwa im Personalverleih (3745 Fr.), im Gastrobereich (3665 Fr. ohne Berufs-abschluss) oder im Kurierdienst (4‘000 Fr.). Darum braucht es auch gesetzliche existenzsicherende Mindestlöhne.
Bleiben die in GAV festgelegten Mindestlöhne gültig?
Das hängt von der Höhe der Mindestlöhne ab. Mindestlöhne in allgemein-verbindlichen GAV, die über dem gesetzlichen Minimum liegen, gelten auch nach Einführung eines städtischen Mindestlohnes weiter. Liegen sie allerdings darunter, dann gilt der gesetzliche Mindestlohn auch für Branchen mit GAV und kann von diesen nicht unterlaufen werden. Mit dieser Regelung soll eine Aushöhlung des gesetzlichen Minimums verhindert werden. Bessere sozialpartnerschaftliche Lösungen indes sind immer möglich und auch erwünscht.
Ein nationaler Mindestlohn wurde 2014 abgelehnt. Warum ein Neuanlauf in Bern?
Inzwischen kennen fünf Kantone (GE, TI, JU, BS, NE) sowie die Städte Zürich und Winterthur einen Mindestlohn. Zudem gibt es in den Kantonen VD, VS, SO und BL sowie in den Städten Bern, Biel, Luzern und Schaffhausen Bestrebungen, Mindestlöhne einzuführen. Das zeigt: Angesichts sinkender Kaufkraft sind existenzsichernde Löhne heute eine Notwendigkeit und von der Stimmbevölkerung gewünscht.
Wie sind die Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen?
Positiv, in der Schweiz wie auch im Ausland: Der Mindestlohn verhilft vielen Menschen zu einem anständigen Leben, verringert Ungleichheit und Armut und entlastet die Sozialhilfe. Das zeigt sich etwa im Kanton Genf: Im Tieflohn-Sektor verbesserte sich das Einkommen von über 30‘000 Arbeitnehmenden, ohne dass es zu nennenswerten Entlassungen kam.
Führt der Mindestlohn zu höherer Arbeitslosigkeit?
Nein. Viele wissenschaftliche Studien belegen, dass Mindestlöhne keine höhere Arbeitslosigkeit verursachen. Das zeigt sich auch in Genf: Die Beschäftigungslage entwickelt sich dort genau gleich wie im Nachbarkanton Waadt, wo es noch keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Im Übrigen herrscht heute in der Schweiz ein Fachkräftemangel, auch im Tieflohn-Sektor.
Schaden Mindestlöhne der Wirtschaft?
Nein. 2021 erhielt der Ökonom David Card den Nobelpreis, dessen Forschung aufzeigt, dass Mindestlöhne keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen haben. Vielmehr verbessern Mindestlöhne die Kaufkraft der unteren Lohnsegmente und stimulieren die Nachfrage und den Konsum. Auch schaffen sie Anreize für Investitionen in Technologie und Bildung, weil menschliche Arbeit mit dem Mindestlohn zu einer wertvolleren Ressource wird.
Steigen mit dem Mindestlohn die Preise?
Nein. Die Erfahrungen in den Kantonen mit gesetzlichem Mindestlohn zeigen: Die Mehrkosten sind in den meisten Betrieben im Verhältnis zur gesamten Lohn- und Kostensumme sehr gering. Erhalten schlecht bezahlte Mitarbeitende etwas mehr Lohn, erhöht sich die Gesamt-kostensumme nur unwesentlich. Eine Überwälzung auf die Konsument:innen lohnt sich daher kaum oder ist so gering, dass sie selten spürbar ist.
Darf die Stadt Bern überhaupt einen Mindestlohn erlassen?
Das Bundesgericht hat in einem Entscheid zum Neuenburger Mindestlohn dargelegt, dass Kantone die Kompetenz haben, Mindestlöhne einzuführen. Rechtsgutachten der Städte Zürich, Winterthur sowie Bern bestätigen, dass auch die Gemeinden dieser Kantone diese Kompetenz haben. Trotzdem blockieren Wirtschaftsverbände den gesetzlichen Mindestlohn mit juristischen Mitteln.
Wie wird die Einhaltung des Mindestlohns durchgesetzt?
Mit Kontrollen durch die Stadt, die von den Sozialpartnern unterstützt wird (tripartite Kommission). Bei strafrechtlich relevanten Fällen kann es zu Anzeigen und zu Bussgeldern kommen. In schweren und wiederholten Fällen kann ein Unternehmen bis zu fünf Jahren von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen und Aufträgen ausgeschlossen werden.
Im Zusammenhang mit der Initiative für die Einführung eines Mindestlohns in der Stadt Bern im Folgenden die wichtigsten Argumente:
Was verlangt die Mindestlohn-Initiative?
Die Initiative verlangt einen sozialpolitisch begründeten gesetzlichen Mindestlohn von brutto 23.80 Franken pro Stunde für alle Arbeit-nehmenden, die vollumfänglich oder mehrheitlich in der Stadt Bern tätig sind. Hinzu kommen Ferien- und Feiertagsentschädigungen. Der Mindestlohn kann in 13 Monatslöhnen ausbezahlt werden. Er richtet sich nach den kantonalen gesetzlichen Vorgaben und orientiert sich in seiner Ausgestaltung an jenem in den Städten Zürich und Winterthur.
Bleibt der Stundenlohn fix bei 23.80 Franken?
Nein. Der Mindestlohn wird gegebenenfalls jährlich auf den 1. Januar angepasst. Bestimmend dafür sind die Entwicklung der Jahresteuerung gemäss dem Landesindex der Konsumentenpreise sowie die Entwicklung der Nominallöhne. Steigen diese, erhöht sich auch der Mindestlohn. Basis des Indexes ist der Indexstand am 1. Januar 2025.
Weshalb ist der Mindestlohn auf 23.80 Franken festgelegt worden?
Dieser Betrag leitet sich von den kantonalen Ergänzungsleistungen ab und setzt sich wie folgt zusammen: Allgemeiner Lebensbedarf 20‘100 Fr., Miete 17’400 Fr., Krankenkassenprämien 4‘404 Fr., Sozialversicherungsbeiträge: 9‘791 Fr. = Bruttolohn (basierend auf 41.6 Stunden/Woche) von 51‘696 Franken. Das ergibt einen Monatslohn von 4‘308 Fr. und einen Stundenlohn von 23.80 Franken.
Warum braucht es einen städtischen Mindestlohn?
In der Stadt Bern erhalten schätzungsweise 8‘000 bis 10‘000 Personen bei einem 100%-Pensum einen Monatslohn von unter 4‘000 Franken. Das reicht kaum zum Leben. Das Existenzminimum beläuft sich gemäss den Ergänzungsleistungen des Kantons Bern auf rund 4‘300 Franken (siehe oben). Daran orientiert sich der Stundenlohn von 23.80 Franken. Ziel ist, dass alle ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten können und niemand trotz Arbeit in die Armut getrieben wird.
Wer ist von Tiefstlöhnen betroffen?
In der Schweiz leben rund 157‘000 Working Poor. Sie arbeiten im Detailhandel, in der Gastronomie, in der Reinigung, im Coiffeur- und Kosmetikgewerbe oder in der Logistikbranche, sind häufig von Schicht‑, Nacht- und Wochenendarbeit sowie von „Arbeit auf Abruf“ betroffen und müssen oft mehrere Jobs ausüben. Auch im Alter haben sie meist nicht genug zum Leben, weil ihnen eine nur geringe Rente zur Verfügung steht. Betroffen sind vor allem Frauen. Doppelt so viele Frauen wie Männer erhalten Tieflöhne. In diesem Bereich zeigt sich die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau am deutlichsten.
Nehmen die Löhne im Tielfohn-Sektor nicht zu?
Auswertungen der Gewerkschaft Unia zeigen, dass der Tieflohn-Sektor mit Löhnen unter 4‘400 Franken seit 2016 aufgrund schlechter Lohn-abschlüsse und der hohen Teuerung nicht zurückgegangen ist.
Welche Ausnahmen sieht die Mindestlohn-Initiative vor?
Keinen Anspruch auf einen Mindestlohn gibt es: bei Lernenden in anerkannten Lehrbetrieben, bei Praktika mit Ausbildungscharakter von höchstens zwölf Monaten, bei Ferienjobs, bei Familienmitgliedern in Familienbetrieben sowie bei staatlich geförderten Programmen zur beruflichen Wiedereingliederung in die Arbeitswelt.
Ist es nicht normal, dass Junge noch nicht so viel verdienen?
Auch Junge haben Anrecht auf existenzsichernde Löhne. Das Problem ist, dass Tieflöhne die Betroffenen das ganze Berufsleben begleiten. Mehr als 60% der Tieflohnbeziehenden sind älter als 30 Jahre. Das ist für die Menschen – ob Jung oder Alt — sehr belastend. Ein Besuch im Kino oder im Restaurant mit der Familie wird so unbezahlbar. Alles leidet darunter.
Mit Praktika werden junge Menschen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Wieso gilt der Mindestlohn nicht für sie?
Die Ausnahme gilt nur für Praktika mit einem klaren Ausbildungscharakter, also für Praktika, die im Rahmen einer formalen Aus- oder Weiterbildung absolviert werden müssen. Die weitverbreiteten sogenannten Praktika, die nach dem formalen Bildungsabschluss von Unternehmen angeboten werden, gelten nicht als Ausnahme und sind daher dem gesetzlichen Mindestlohn unterstellt.
Sind Mindestlöhne nicht Sache der Sozialpartner?
In vielen Gesamtarbeitsverträgen (GAV) sind Mindestlöhne fest-geschrieben. Aber erstens sind nur etwa die Hälfte aller Beschäftigten einem GAV unterstellt. Zweitens gibt es immer noch GAV, bei denen die Mindestlöhne unter oder bei genau 4‘000 Franken im Monat liegen, etwa im Personalverleih (3745 Fr.), im Gastrobereich (3665 Fr. ohne Berufs-abschluss) oder im Kurierdienst (4‘000 Fr.). Darum braucht es auch gesetzliche existenzsicherende Mindestlöhne.
Bleiben die in GAV festgelegten Mindestlöhne gültig?
Das hängt von der Höhe der Mindestlöhne ab. Mindestlöhne in allgemein-verbindlichen GAV, die über dem gesetzlichen Minimum liegen, gelten auch nach Einführung eines städtischen Mindestlohnes weiter. Liegen sie allerdings darunter, dann gilt der gesetzliche Mindestlohn auch für Branchen mit GAV und kann von diesen nicht unterlaufen werden. Mit dieser Regelung soll eine Aushöhlung des gesetzlichen Minimums verhindert werden. Bessere sozialpartnerschaftliche Lösungen indes sind immer möglich und auch erwünscht.
Ein nationaler Mindestlohn wurde 2014 abgelehnt. Warum ein Neuanlauf in Bern?
Inzwischen kennen fünf Kantone (GE, TI, JU, BS, NE) sowie die Städte Zürich und Winterthur einen Mindestlohn. Zudem gibt es in den Kantonen VD, VS, SO und BL sowie in den Städten Bern, Biel, Luzern und Schaffhausen Bestrebungen, Mindestlöhne einzuführen. Das zeigt: Angesichts sinkender Kaufkraft sind existenzsichernde Löhne heute eine Notwendigkeit und von der Stimmbevölkerung gewünscht.
Wie sind die Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen?
Positiv, in der Schweiz wie auch im Ausland: Der Mindestlohn verhilft vielen Menschen zu einem anständigen Leben, verringert Ungleichheit und Armut und entlastet die Sozialhilfe. Das zeigt sich etwa im Kanton Genf: Im Tieflohn-Sektor verbesserte sich das Einkommen von über 30‘000 Arbeitnehmenden, ohne dass es zu nennenswerten Entlassungen kam.
Führt der Mindestlohn zu höherer Arbeitslosigkeit?
Nein. Viele wissenschaftliche Studien belegen, dass Mindestlöhne keine höhere Arbeitslosigkeit verursachen. Das zeigt sich auch in Genf: Die Beschäftigungslage entwickelt sich dort genau gleich wie im Nachbarkanton Waadt, wo es noch keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Im Übrigen herrscht heute in der Schweiz ein Fachkräftemangel, auch im Tieflohn-Sektor.
Schaden Mindestlöhne der Wirtschaft?
Nein. 2021 erhielt der Ökonom David Card den Nobelpreis, dessen Forschung aufzeigt, dass Mindestlöhne keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen haben. Vielmehr verbessern Mindestlöhne die Kaufkraft der unteren Lohnsegmente und stimulieren die Nachfrage und den Konsum. Auch schaffen sie Anreize für Investitionen in Technologie und Bildung, weil menschliche Arbeit mit dem Mindestlohn zu einer wertvolleren Ressource wird.
Steigen mit dem Mindestlohn die Preise?
Nein. Die Erfahrungen in den Kantonen mit gesetzlichem Mindestlohn zeigen: Die Mehrkosten sind in den meisten Betrieben im Verhältnis zur gesamten Lohn- und Kostensumme sehr gering. Erhalten schlecht bezahlte Mitarbeitende etwas mehr Lohn, erhöht sich die Gesamt-kostensumme nur unwesentlich. Eine Überwälzung auf die Konsument:innen lohnt sich daher kaum oder ist so gering, dass sie selten spürbar ist.
Darf die Stadt Bern überhaupt einen Mindestlohn erlassen?
Das Bundesgericht hat in einem Entscheid zum Neuenburger Mindestlohn dargelegt, dass Kantone die Kompetenz haben, Mindestlöhne einzuführen. Rechtsgutachten der Städte Zürich, Winterthur sowie Bern bestätigen, dass auch die Gemeinden dieser Kantone diese Kompetenz haben. Trotzdem blockieren Wirtschaftsverbände den gesetzlichen Mindestlohn mit juristischen Mitteln.
Wie wird die Einhaltung des Mindestlohns durchgesetzt?
Mit Kontrollen durch die Stadt, die von den Sozialpartnern unterstützt wird (tripartite Kommission). Bei strafrechtlich relevanten Fällen kann es zu Anzeigen und zu Bussgeldern kommen. In schweren und wiederholten Fällen kann ein Unternehmen bis zu fünf Jahren von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen und Aufträgen ausgeschlossen werden.