13. AHV-Rente, Rentenalter 67 und BVG-Revision: Darüber werden wir im nächsten Jahr abstimmen. Damit wird 2024 das Schicksalsjahr für die Altersvorsorge. Zentral dabei ist die Initiative für eine 13. AHV-Rente: Ein Ja dazu bedeutete nicht nur etwas mehr soziale Gerechtigkeit, sondern wäre auch ein Votum gegen eine Schweiz, die inzwischen gefährlich weit nach rechts gedriftet ist. Hier in einer ersten Folge zur Altersvorsorge die Gründe, die für die 13. AHV-Rente sprechen.
Oktober 2023. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die AHV ist eine geniale soziale Errungenschaft, realisiert in einem lichten Augenblick der Politik vor 75 Jahren. Sie gründet auf echte Solidarität, weil sie das tut, was vornehmste Pflicht des aufgeklärten, demokratischen und sozialen Staates ist: von oben nach unten umzuverteilen. Was das bedeutet, zeigt eine eindrückliche Zahl: 92 Prozent der Menschen in der Schweiz erhalten heute mit der AHV-Rente mehr Geld zurück, als sie in ihrem Leben je an AHV-Beiträgen eingezahlt haben.
Gerechtigkeit pur!
Möglich ist dies, weil Topverdienende und Begüterte bedeutend mehr in die AHV einzahlen müssen als alle anderen. Dies erstens über die direkte Bundessteuer: Diese Steuer bittet die hohen Einkommen viel stärker zur Kasse als alle übrigen Einkommensklassen; und die Erträge der Bundessteuer fliessen zu einem nicht unwesentlichen Teil in die AHV. Und zweitens tragen Topverdienende mehr zur AHV bei, indem sie unlimitiert AHV-Beiträge leisten müssen. Gleichzeitig erhalten sie aber nicht mehr Rente als alle anderen, sondern dieselbe plafonierte AHV-Rente wie die Erwerbstätigen mit mittleren und tieferen Löhnen. Und genau dieser Mechanismus schafft Gerechtigkeit pur: Wer die AHV am wenigsten braucht, zahlt am meisten dafür ein – und umgekehrt.
Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
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Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
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Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
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Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
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Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
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Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html
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Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
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Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
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Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
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Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
Grafik
Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
Grafik
Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.htm
AHV-Ausbau ist immer gut
Darum liegt ein Ausbau der AHV immer im Interesse der breiten Bevölkerung. Denn er bewirkt immer eine Besserstellung der normalen Einkommen im Alter – und zwar eine Besserstellung, die durch die hohen Einkommen finanziert wird. Sparen bei der AHV indes bedeutet immer das Gegenteil: eine Benachteiligung der normalen Einkommen. Im Alter haben die Menschen dadurch nicht mehr, sondern weniger AHV. Denn mit dem Sparen wird die finanzstarke Oberschicht aus der Solidarpflicht entlassen, so dass überproportional weniger Geld in die AHV-Kasse fliesst. Wer daher mit normalem Lohn fürs Sparen in der AHV plädiert, schadet sich selbst.
Mehr vom Wohlstand
Das ist auch der Blickwinkel, aus dem die von Gewerkschaften und SP geforderte 13. AHV-Rente zu beurteilen ist. Es geht um Verteilungsgerechtigkeit und darum, dass die Bevölkerung mehr haben sollte von jenem Wohlstand, den sie mit ihrer täglichen Arbeit selbst erschafft. Und dass die Menschen insbesondere im Alter mehr haben sollten, dafür gibt es viele gute Gründe:
Erstens kann mit dem Ausbau der AHV durch eine 13. AHV-Rente der fatale Fehler korrigiert werden, den die Bevölkerung mit ihrem äusserst knappen Ja zur AHV21 beging. Diese Reform war nicht nur unnötig, sondern ein sozialer Rückschritt: Statt die hohen Einkommen in die Pflicht zu nehmen, wurden die Normalverdiener und vorab die Frauen ohne jede Not zusätzlich belastet und bestraft. Nur schon dies rechtfertigt die mit der 13. AHV-Rente geforderte Erhöhung der AHV-Leistungen um 8,33 Prozent.
Zweitens verlieren die AHV-Renten seit Jahrzehnten schleichend an Wert, weil sie nur teilweise an die Lohn- und Teuerungsentwicklung angepasst werden. Die Kaufkraft der AHV-Renten ist seit 1975 um 29 Prozent gesunken. Ein Teuerungsausgleich ist daher ein Gebot der Stunde, erst recht angesichts steigender Mieten, Prämien und Lebenshaltungskosten.
Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
Grafik
Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
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Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
Grafik
Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
Grafik
Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
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Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html
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Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
Grafik
Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
Grafik
Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
Grafik
Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
Grafik
Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
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Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.htm
Drittens sind die AHV-Renten generell zu tief. Das zeigt sich daran, dass jede zehnte Person über 65 auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen ist, darunter vor allem Frauen. Das ist umso stossender, als die Bundesverfassung vorschreibt, dass die Renten zum Leben reichen müssen.
Und viertens braucht es die 13. AHV-Rente auch mit Blick auf den Zustand der Pensionskassen (PK). Deren Renten sind seit 2015 um 8,5 Prozent gesunken, während die PK-Beiträge um 10 Prozent gestiegen sind. Wegen der Zweiten Säule zahlen wir also immer mehr für immer weniger Altersvorsorge.
Bezahlbarer Ausbau
Für die 13. AHV-Rente spricht zudem, dass sie bezahlbar ist: Die Kosten dafür belaufen sich jährlich auf rund vier Milliarden Franken und stellen für die reiche Schweiz absolut keine Herausforderung dar. Zum Vergleich: Alleine im Rahmen des Bundeshaushaltes werden jährlich über die laufenden Einnahmen und Ausgaben rund 90 Milliarden Franken umgesetzt.
Doch abgesehen davon: Tatsache ist, dass die AHV finanziell stabil und robust unterwegs ist. So schreibt sie allem Schlechtreden zum Trotz nach wie vor schwarze Zahlen. Bis im Jahr 2030 dürfte sie laut den Prognosen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) über 20 Milliarden mehr eingenommen als ausgegeben haben und über ein Vermögen von 70 Milliarden verfügen. Damit könnte die 13. AHV-Rente in einer ersten Phase sogar ohne Zusatzfinanzierung eingeführt werden.
Darüber hinaus wird immer wieder bewusst ausgeblendet, dass die Möglichkeiten zur Finanzierung der AHV durch den Bund bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Was viele nämlich nicht wissen: Laut Art. 112 der Bundesverfassung darf der Bund bis 50 Prozent der AHV-Ausgaben aus dem eigenen Bundeshaushalt finanzieren. Heute sind es etwas mehr als 20 Prozent bzw. zehn Milliarden. Das heisst, es ist seit jeher explizit vorgesehen, dass der Bund beträchtliche Steuermittel für die Erste Säule zur Verfügung stellt. Dass dies breite politische Kreise bis heute nicht realisiert haben, hat in erster Linie mit der bürgerlichen Mehrheit zu tun, welche die Subventionierung der AHV durch Bundesmittel immer wieder als einen Sündenfall darstellt und diskreditiert.
Als Finanzierungsquelle weiterhin eine überaus sinnvolle und taugliche Option sind Lohnprozente. Sie sind sozial, weil sie für eine Mehrheit der Menschen die günstigste Variante sind, sich eine Rente zu sichern. Für die rund vier Milliarden bräuchte es zusätzlich je 0,4 Lohnprozente von Beschäftigten und Arbeitgebern. Mit einer einmaligen Erhöhung von beispielsweise je 0,6 bis 0,8 Prozent in den nächsten zehn bis 15 Jahren könnte sowohl die 13. AHV-Rente abgesichert als auch noch zusätzlich eine temporäre Überbrückungsfinanzierung für die Babyboomer-Generation realisiert werden.
Produktivität ist matchentscheidend
Ob mehr Lohnprozente aber wirklich nötig sind, ist alles andere als gesagt. Denn Tatsache ist, dass der positive Effekt von Wirtschaftswachstum und Produktivität für die AHV-Finanzierung bisher stets unterschätzt wurde. Sie sorgen für eine stetige Zunahme der Löhne und damit dafür, dass die Einnahmen der AHV aus den Lohnprozenten Jahr für Jahr steigen. Das erlaubt es dem Sozialwerk, die Alterung der Gesellschaft zu einem beträchtlichen Teil aufzufangen und immer mehr Renten zu finanzieren. Bleibt die Schweiz also das vielgerühmte wirtschaftliche “Erfolgsmodell”, braucht es vielleicht gar keine Zusatzeinnahmen.
Wer hat, soll mehr mittragen
All dies macht deutlich: Die 13. AHV-Rente ist angesichts der Rentenverluste der letzten Jahre, der gegenwärtigen Preissteigerungen und dem Fehlentscheid zur AHV21 eine berechtigte Forderung. Und sollten dafür dereinst tatsächlich Zusatzeinnahmen nötig sein, ist es legitim, die oberen Einkommen und die Begüterten in die Pflicht zu nehmen. Denn: Wer so viel wie sie von der Schweiz profitiert, darf auch etwas mehr zurückgeben.
Autor: Walter Langenegger
Weitere Beiträge zum Thema AHV:
- AHV: Verkappte Koppelung, Oktober 2023: https://wlangenegger.ch/verkappte-koppelung/
- Es lebe die Giesskanne, Februar 2022: https://wlangenegger.ch/es-lebe-die-giesskanne/
- AHV-Fehlentscheid mit Folgen, September 2022: https://wlangenegger.ch/ahv-fehlentscheid-mit-folgen/
- Hütet euch vor Kopfsteuern, August 2022: https://wlangenegger.ch/huetet-euch-vor-kopfsteuern/
- Die Mär von der Demografie, Juni 2022: https://wlangenegger.ch/die-maer-von-der-demografie/
- Sparen bei der AHV ist falsch: https://wlangenegger.ch/sparen-bei-der-ahv-ist-falsch/