
LinÂke PoliÂtik ist immer stärÂker von gesellÂschaftÂliÂchen und idenÂtiÂtätsÂpoÂliÂtiÂschen FraÂgen sowie von einer auf libeÂraÂle RezepÂte und InstruÂmenÂte basieÂrenÂde KliÂma- und WirtÂschaftsÂpoÂliÂtik geprägt. GleichÂzeiÂtig rücken die soziaÂle FraÂge sowie die klasÂsiÂsche ForÂdeÂrung nach gerechÂter UmverÂteiÂlung in den HinÂterÂgrund. Immer gröÂsser wird ausserÂdem die Distanz zur einÂstiÂgen SchweÂsterÂorÂgaÂniÂsaÂtiÂon: den GewerkÂschafÂten. Wohin steuÂert die LinÂke? Eine Auslegeordnung:
NovemÂber 2022. Was macht die LinÂke eigentÂlich im Kern aus? WorÂin unterÂscheiÂdet sie sich von ihrer KonÂkurÂrenz und wo verÂläuft die DemarÂkaÂtiÂonsÂliÂnie zwiÂschen dem linÂken und dem bürÂgerÂliÂchen poliÂtiÂschen SpekÂtrum? Die AntÂwort darÂauf scheint banal zu sein. Wenn man nämÂlich die poliÂtiÂsche DebatÂte verÂfolgt, so gibt es in den MediÂen und in der ÖffentÂlichÂkeit kein ZweiÂfel darÂan, dass TheÂmen wie KliÂmaÂkriÂse, EnerÂgie- und VerÂkehrsÂpoÂliÂtik, GleichÂstelÂlung, GenÂder und DiverÂsiÂtät, Anti-RasÂsisÂmus und WokeÂness, FrieÂdensÂpoÂliÂtik und EU-BeiÂtritt gemeinÂhin linÂke SchwerÂpunkÂte sind und zu einer linÂken AgenÂda gehöÂren. Also gilt dies auch als linÂke Politik.
Das ist nicht falsch, aber ungeÂnau und weniÂger ausÂsaÂgeÂkräfÂtig, als man auf dem ersten Blick meiÂnen könnÂte. Denn: Es stimmt, es sind die rot-grüÂnen StädÂte, die VeloÂpoÂliÂtik und öffentÂliÂchen VerÂkehr vorÂanÂtreiÂben; aber sie werÂden dabei oft von bürÂgerÂlich-urbaÂnen ParÂteiÂen unterÂstützt. Es stimmt, es sind oft linÂke KreiÂse, die sich mit DiverÂsiÂtät und LGBTQ befasÂsen; aber das tun auch nicht-linÂke ParÂteiÂen sowie vieÂle OrgaÂniÂsaÂtioÂnen und sogar zahlÂreiÂche UnterÂnehÂmen. Und es stimmt, es ist die SP, die eine aktiÂve NeuÂtraÂliÂtätsÂpoÂliÂtik und einen EU-BeiÂtritt forÂdert; aber das machen auch die GLP und zum Teil die FDP.
Links und linksliberal
Die BeiÂspieÂle zeiÂgen, dass TheÂmen, die eine linÂke EtiÂketÂte traÂgen, noch kein AlleinÂstelÂlungsÂmerkÂmal für linÂke PoliÂtik sind. VielÂmehr hanÂdelt es sich dabei oft um AnlieÂgen, welÂche auch von einer sozial‑, links- und gesellÂschaftsÂliÂbeÂraÂlen bürÂgerÂliÂchen MitÂte verÂtreÂten werÂden. Es geht um indiÂviÂduÂelÂle FreiÂheitsÂrechÂte, um SelbstÂbeÂstimÂmung und MinÂderÂheiÂtenÂschutz, um eine offeÂne GesellÂschaft und Anti-DisÂkriÂmiÂnieÂrung, um WeltÂofÂfenÂheit und um die SorÂge über den KliÂmaÂwanÂdel – also um FraÂgen, die sowohl zu einer linÂken ProÂgramÂmaÂtik als auch ins ReperÂtoire von proÂgresÂsiÂven und fortÂschrittÂliÂchen bürÂgerÂliÂchen ParÂteiÂen gehöÂren. DarÂum tauÂgen sie kaum als IdenÂtiÂfiÂzieÂrung dafür, was Herz und Wesen klasÂsiÂscher linÂker PoliÂtik ist.
UmverÂteiÂlung und Gleichheit
Die AntÂwort darÂauf finÂdet sich vielÂmehr andersÂwo, nämÂlich in den geschichtÂliÂchen UrsprünÂgen der LinÂken. Die LinÂke entÂstand wähÂrend der InduÂstriaÂliÂsieÂrung angeÂsichts des Elends und der mateÂriÂelÂlen Not der breiÂten BevölÂkeÂrung. Ihr Kampf galt der AusÂbeuÂtung und der mateÂriÂelÂlen UngleichÂheit und verÂfolgÂte mit oberÂster PrioÂriÂtät das Ziel, den in einer GesellÂschaft erarÂbeiÂteÂten WohlÂstand gerecht zu verÂteiÂlen. Das MitÂtel dazu: UmverÂteiÂlung von oben nach unten und von reich zu arm. GeleiÂtet wurÂde die LinÂke dabei nicht von WohlÂtäÂtigÂkeit, sonÂdern von der ÃœberÂzeuÂgung, dass alle MenÂschen gleich sind und daher ein zwinÂgenÂdes Anrecht auf WohlÂstand haben. DarÂauf grünÂden auch ihre WerÂte der allerÂerÂsten StunÂde wie die FrauÂenÂrechÂte, der Anti-FaschisÂmus und der Anti-Kolonialismus.
Die gerechÂte VerÂteiÂlung des WohlÂstanÂdes und die uniÂverÂselÂle GleichÂheit aller MenÂschen: Das sind die zeitÂloÂsen MerkÂmaÂle der klasÂsiÂschen LinÂken. NieÂmand anders forÂdert soziaÂle GerechÂtigÂkeit und GleichÂheit in dieÂser BestimmtÂheit – auch nicht die Links- und SoziÂalÂliÂbeÂraÂlen. DarÂum ist links nicht gleich links. Und darÂum ist links auch nicht linksliberal.
Gegen die WillÂkür der Mächtigen
Das BekenntÂnis zu UmverÂteiÂlung und GleichÂheit ist auch der Grund, wesÂhalb die klasÂsiÂsche LinÂke ein andeÂres StaatsÂverÂständÂnis verÂtritt als der LinksÂliÂbeÂraÂlisÂmus. LetzÂteÂrer erachÂtet den Staat getreu der libeÂraÂlen LehÂre als notÂwenÂdiÂges Ãœbel und setzt auf Markt, WettÂbeÂwerb, EigenÂverÂantÂworÂtung, BedarfsÂprinÂzip und tieÂfe SteuÂern, um dieÂsen klein zu halÂten. In der linÂken ProÂgramÂmaÂtik indes ist der Staat eine SchutzÂgeÂmeinÂschaft der MehrÂheit gegen die WillÂkür der MächÂtiÂgen; er ist demoÂkraÂtisch und leiÂstungsÂstark und sorgt mit einer keyneÂsiaÂniÂschen WirtÂschafts- und FinanzÂpoÂliÂtik, einem gerechÂten SteuÂerÂsyÂstem sowie mit ausÂgeÂbauÂtem SerÂvice publik und SoziÂalÂstaat dafür, dass alle SchichÂten teilÂhaÂben an WohlÂstand und ProÂspeÂriÂtät. Das ist das zenÂtraÂle Feld, auf dem die DemarÂkaÂtiÂonsÂliÂnie im poliÂtiÂschen SpekÂtrum verÂläuft und welÂche die LinÂke von den BürÂgerÂliÂchen und vom bürÂgerÂliÂchen LinksÂliÂbeÂraÂlisÂmus unterscheidet.
DieÂses StaatsÂverÂständÂnis ist – zuminÂdest in der linÂken TheoÂrie — auch bestimÂmend für die andeÂren PoliÂtikÂfelÂder, etwa der UmweltÂpoÂliÂtik. Die StraÂteÂgie der LinÂken ist es eigentÂlich nicht, die KliÂmaÂkriÂse mitÂtels marktÂwirtÂschaftÂliÂcher InstruÂmenÂte wie LenÂkungsÂabÂgaÂben, EmisÂsiÂonsÂhanÂdel und steuÂerÂliÂchen AnreiÂze abzuÂwenÂden, so wie sie dies heuÂte vielÂfach gemeinÂsam mit linksÂliÂbeÂraÂlen und proÂgresÂsiÂven bürÂgerÂliÂchen KräfÂten tut. Denn das bedeuÂtet oftÂmals, die Kosten der KliÂmaÂkriÂse auf die unteÂren und mittÂleÂren BevölÂkeÂrungsÂschichÂten abzuÂwälÂzen. Die StraÂteÂgie der LinÂken müssÂte gemäß ihrer ProÂgramÂmaÂtik vielÂmehr sein, UnterÂnehÂmen und VerÂmöÂgenÂde stärÂker proÂgresÂsiv zu besteuÂern, damit der Staat mit einem starÂken öffentÂliÂchen SekÂtor sowie mit staatÂliÂcher FinanÂzieÂrung und ReguÂlieÂrung in der Lage ist, in das WirtÂschaftsÂgeÂscheÂhen einÂzuÂgreiÂfen und den Umbau hin zu einer soziÂal gerechÂten, nachÂhalÂtiÂgen und ökoÂloÂgiÂschen GesellÂschaft aktiv mitzugestalten.
LinksÂliÂbeÂraÂle Linke?
DieÂses linÂke StaatsÂverÂständÂnis, dieÂse FokusÂsieÂrung auf eine dem GemeinÂwohl dieÂnenÂde UmverÂteiÂlung und dieÂses BeharÂren auf soziaÂle GerechÂtigÂkeit in allen poliÂtiÂschen BelanÂgen sind allerÂdings EigenÂschafÂten, die innerÂhalb der linÂken ParÂteiÂen an BedeuÂtung verÂloÂren haben und oft wenig mehr als LipÂpenÂbeÂkenntÂnisÂse sind. Viel stärÂker im VorÂderÂgrund der LinÂken steÂhen heuÂte nebst der KliÂmaÂfraÂge insÂbeÂsonÂdeÂre gesellÂschafts- und idenÂtiÂtätsÂpoÂliÂtiÂsche Fragen.
Die GrünÂde dafür lieÂgen im SieÂgesÂzug des NeoÂliÂbeÂraÂlisÂmus, der den soziaÂlen WohlÂfahrtsÂstaat der NachÂkriegsÂzeit unterÂmiÂnierÂte, sowie im AufÂkomÂmen der GrüÂnen angeÂsichts der zunehÂmenÂden ZerÂstöÂrung der Umwelt. DieÂse EntÂwickÂlunÂgen führÂten dazu, dass groÂße TeiÂle der LinÂken in den letzÂten 40 JahÂren sukÂzesÂsiÂve RichÂtung poliÂtiÂscher MitÂte rückÂten. Damit bewegÂten sich insÂbeÂsonÂdeÂre die soziÂalÂdeÂmoÂkraÂtiÂschen ParÂteiÂen weg von ihren WurÂzeln und weg von den GewerkÂschafÂten und wandÂten sich links- und soziÂalÂliÂbeÂraÂlen PosiÂtioÂnen zu. AusÂdruck dieÂser EntÂwickÂlung war nicht zuletzt der sogeÂnannÂte „DritÂte Weg“ von Labour und SPD.
GleiÂches geschah auch in der Schweiz, wenn auch in gerinÂgeÂrem AusÂmaß. Eine groÂße MehrÂheit der SP-ExeÂkuÂtivÂmitÂglieÂder beiÂspielsÂweiÂse ist heuÂte dem ReformÂflüÂgel zuzuÂrechÂnen, der sich selbst expliÂzit als soziÂalÂliÂbeÂral bezeichÂnet. DieÂser ist auch dafür verÂantÂwortÂlich, dass auch vieÂle InhalÂte sowie die StraÂteÂgien der heuÂtiÂgen LinÂken linksÂliÂbeÂral geprägt sind. So setzÂten sich SP und GrüÂne für das gescheiÂterÂte CO2-Gesetz ein, obwohl dieÂses stark auf libeÂraÂle und marktÂwirtÂschaftÂliÂche InstruÂmenÂte beruhÂte und den unteÂren SchichÂten höheÂre BelaÂstunÂgen zugeÂmuÂtet hätÂte. ÄhnÂliÂches gilt für die EuroÂpaÂpoÂliÂtik: ZugunÂsten eines EU-BeiÂtritts sind groÂße TeiÂle der SP bereit, beim LohnÂschutz und dem SerÂvice publik KonÂzesÂsiÂon zu machen.
Und die Klassenfrage?
Ob die PrioÂriÂsieÂrung gesellÂschaftsÂliÂbeÂraÂler TheÂmen und die HinÂwenÂdung zu libeÂraÂlen RezepÂten in der WirtÂschafts- und KliÂmaÂpoÂliÂtik auf DauÂer der richÂtiÂge Weg für die LinÂke ist, ist allerÂdings offen. So gibt es denn auch warÂnenÂde StimÂmen aus dem linÂken FlüÂgel. Dazu gehört etwa der eheÂmaÂliÂge langÂjähÂriÂge SP-ParÂlaÂmenÂtaÂriÂer Paul RechÂsteiÂner. Im SP-Blatt „Links“ rief er seiÂne ParÂtei kürzÂlich auf, auch künfÂtig ihre AufÂgaÂbe als soziaÂle Kraft wahrÂzuÂnehÂmen und mit den GewerkÂschafÂten für besÂseÂre LöhÂne, besÂseÂre ArbeitsÂbeÂdinÂgunÂgen und höheÂre RenÂten zu kämpÂfen. „Wenn die SP keiÂne soziaÂle Kraft mehr ist, dann ist die SoziÂalÂdeÂmoÂkraÂtie ideell, aber auch real, in ihrer GlaubÂwürÂdigÂkeit erleÂdigt“, mahnÂte er.
ÄhnÂlich äußerÂte sich jüngst auch jemand, von dem man dies nicht erwarÂtet hätÂte, nämÂlich der US-PoliÂtoÂloÂge FranÂcis FukuÂyaÂma, der nach dem MauÂerÂfall vor 30 JahÂren in einem bekannÂten Buch den TriÂumph des LibeÂraÂlisÂmus über den SoziaÂlisÂmus feiÂerÂte. Auf die FraÂge der „BerÂner ZeiÂtung“, was die LinÂke tun sollÂte, meinÂte er: „Sich wieÂder stärÂker auf die KlasÂsenÂfraÂge zu konÂzenÂtrieÂren statt auf andeÂre Kategorien.“
WalÂter Langenegger