
Bei der geplanten Individualbesteuerung ist stets die Rede von positiven Dingen wie der verbesserten Gleichstellung, der erleichterten Berufstätigkeit der Frauen und der Abschaffung der „Heiratsstrafe“. Dabei geht allerdings oft unter, dass diese Reform vor allem eines bewirkt: eine beträchtliche Steuersenkung für obere Einkommen. Profitieren würden insbesondere gutsituierte Doppelverdiener-Ehepaare. Und das ist kaum förderlich für den sozialen Ausgleich.
Dezember 2022. Seit Jahrzehnten findet in der Schweiz eine schleichende Umschichtung der Steuerbelastung statt. Das Muster ist immer das gleiche: Progressive Steuern wie die Einkommens- oder die Bundessteuer werden gesenkt, Abgaben wie die Krankenkassenprämien oder Kopfsteuern wie die regressive Mehrwertsteuer dagegen erhöht.
Oben Geschenke, unten Opfer
Profiteure dieser Steuerpolitik sind die hohen Einkommen. Deren Steuerlast sinkt seit Jahren. Mit jeder Tarifsenkung und mit jedem neuen Steuerabzug bei den Einkommenssteuern bzw. den direkten Steuern sparen sie viel Geld. Alle anderen indes gehören zu den Verlierern: Vom Abbau haben sie kaum etwas, weil die Progression bei den unteren und mittleren Einkommen ohnehin tief ist. Dafür schlagen die Erhöhungen bei den indirekten Steuern bzw. bei den Abgaben und der Mehrwertsteuer umso mehr zu Buche.
Das Resultat dieser von der bürgerlichen Mehrheit betriebenen Steuerpolitik ist eine Umverteilung von unten nach oben und das Gegenteil dessen, was die Bundesverfassung verlangt: nämlich eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Politik lässt damit zu, dass eine wirtschaftlich starke Oberschicht sich immer mehr ihrer Bürgerpflicht entzieht, einen angemessenen Teil der staatlichen Aufgaben mitzufinanzieren; und sie nimmt in Kauf, dass die Lasten immer stärker auf die Schultern der Menschen mit durchschnittlichen Löhnen überwälzt wird.
Neue Reform, neue Ungleichheit
Dieser Logik entspricht auch das jüngste Steuerreform-Projekt, welches der Bundesrat im November 2022 in die Vernehmlassung gegeben hat: die sogenannte Individualbesteuerung. Damit will er die steuerliche Diskriminierung eines Teils der Ehepaare gegenüber Konkubinatspaaren – die sogenannte „Heiratsstrafe“ — beseitigen sowie die Gleichstellung verbessern und die Berufstätigkeit der Frauen fördern. Dazu schlägt er im Rahmen der Bundessteuer vor, dass Ehepaare künftig nicht mehr gemeinsam, sondern je einzeln getrennt besteuert werden, wie dies heute schon bei unverheirateten Paaren der Fall ist. Damit würden die beiden Ehepartner wie Unverheiratete in eine tiefere Progressionsstufe rutschen und zusammen neu weniger Steuern zahlen. Von diesem Systemwechsel profitieren würden alle Ehepaare mit zwei Einkommen, also eine Mehrheit der Verheirateten.
Das Problem dabei ist: Mit diesem Modell nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich weiter zu. Dies zum einen deshalb, weil die Auswirkungen des Systemwechsels auf die verschiedenen Einkommensklassen sehr unterschiedlich sind. Und zum anderen, weil die Individualbesteuerung den Bundeshaushalt belasten würde: So rechnet der Bundesrat bei der Bundessteuer mit Ausfällen von jährlich einer Milliarde Franken.
Hohe Einkommen profitieren
Zunächst zu den Auswirkungen der Individualbesteuerung: Die Bundessteuer unterliegt einer starken Progression und ist in gewissem Sinne eine „Reichensteuer“. Der Effekt einer getrennten Veranlagung ist daher umso grösser, je höher das Einkommen ist. Das heisst, dass jene Familien am meisten Steuern sparen würden, die mit ihrem Erst- und Zweiteinkommen über ein überdurchschnittlich hohes Einkommen verfügen. Am vorteilhaftesten wäre die Individualsteuer für Doppelverdiener-Paare, bei denen beide ähnlich hohe und über 120‘000 Franken liegende Löhne beziehen — also für Personen, die bestens ausgebildet sind und der oberen Mittelschicht und Oberschicht angehören. Sie würden neu in markant tiefere Progressionsstufen veranlagt und könnten Tausende Franken an Steuern sparen. Dies gilt auch dann noch, wenn zur Minderung dieses Effekts besondere Tarifanpassungen vorgenommen werden, wie dies der Bundesrat in einer Zusatzvariante vorschlägt.
So oder so nur wenig profitieren hingegen Ehepaare, bei denen beide einen durchschnittlichen Verdienst haben. Mit ihrem gemeinsamen Haushaltseinkommen liegen sie bereits heute in einer unteren Progressionsstufe, so dass die Reform für sie nur bescheidene Einsparungen bringt. Und erst recht nichts von der Individualbesteuerung haben jene, die nur wenig verdienen und daher keine Bundessteuer zahlen.
Dass die Reform vor allem obere Einkommensklassen begünstigt, räumt auch der Bundesrat ein: „In Franken betrachtet fällt die stärkste Entlastung im obersten Einkommensdezil an“, schreibt er. Gemeint sind damit Einkommen über 97‘000 Franken. Kaum spürbar ist die Individualbesteuerung hingegen bei Einkommen bis 40‘000 Franken. In diesem Segment kann bestenfalls mit einer Reduktion im Zehntelprozent-Bereich gerechnet werden – was also kaum der Rede wert ist.
Ein Minus-Geschäft
Sodann zu den Steuerausfällen: Hier gilt die alte Weisheit, wonach es immer die breite Bevölkerung mit unteren und mittleren Einkommen ist, die es am stärksten im Portemonnaie spürt, wenn der öffentlichen Hand die Mittel fehlen. Denn je weniger Steuern die Vermögenden und Gutsituierten zahlen und je tiefer die Einnahmen unseres Sozial- und Dienstleistungsstaates sind, desto mehr muss bei öffentlichen Investitionen sowie bei Bildung, Gesundheit, Mobilität und in der sozialen Sicherheit gespart werden. Bezogen auf die Individualbesteuerung bedeutet das: Was die breite Bevölkerung an Steuerreduktion erhält, reicht in den meisten Fällen nicht einmal dafür aus, jene Dienstleistungen und Angebote zu berappen, die der Staat wegen der Steuerausfälle nicht mehr finanziert. Am Schluss ist es für die Mehrheit ein Minus-Geschäft.
Sozialer Ausgleich wird geschwächt
Dies wiederum macht klar: Die Individualbesteuerung ist vor allem eine Reform zugunsten hoher Einkommensklassen. Sie dient in erster Linie der Gleichstellung und der Chancengleichheit der Ehepaare im oberen Einkommenssegment. Sozial- und finanzpolitisch dagegen ist sie höchst kontraproduktiv, weil sie die Ungleichheit weiter verschärft.
Vor diesem Hintergrund ist daher die Frage berechtigt, wie hoch der Preis für die Beseitigung der „Heiratsstrafe“ sein darf. Das fragte sich jüngst auch Daniel Binswanger, der bekannte Kolumnist der „Republik“. „Muss Gleichstellung wirklich auf Kosten von sozialem Ausgleich gehen?“, schrieb er in einem kritischen Beitrag zur Individualbesteuerung und empfahl, auf diese Steuerreform zu verzichten und stattdessen die Berufstätigkeit und die Chancengleichheit der Frauen mit anderen Massnahmen zu fördern (https://www.republik.ch/2022/10/29/steuern-fuer-homogame-paare).
Die gleiche Frage sollten sich auch die Sozialdemokratie und die Grünen stellen. Sie haben sich nicht nur die Gleichstellung der Frauen auf die Fahne geschrieben, sondern ebenso sehr mehr Steuergerechtigkeit und faire Umverteilung von oben nach unten. In diesem Zielkonflikt tun sie gut daran, sich die negativen sozialpolitischen Auswirkungen der Individualbesteuerung sehr gut vor Augen zu führen. Ansonsten riskieren sie, für das falsche Wählersegment Politik zu machen.
Walter Langenegger
Erläuternder Bericht des Bundesrates zur Individualbesteuerung:
https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/74243.pdf