Bevöl­ke­rung will Gerechtigkeit

Etwas ist im Staa­te Schweiz gesche­hen; etwas hat sich bewegt, sich ver­scho­ben. Dass die 13. AHV-Ren­te eine Mehr­heit fin­den wür­de, war noch vor kur­zem undenk­bar. Nie zuvor war es der Lin­ken ver­gönnt, mit einer Volks­in­itia­ti­ve mehr sozia­le Gerech­tig­keit durch­zu­set­zen. Und jetzt dies: Fast 60 Pro­zent fol­gen den Gewerk­schaf­ten, der Sozi­al­de­mo­kra­tie und den Grü­nen und pul­ve­ri­sie­ren das bür­ger­li­che Estab­lish­ment mit Wirt­schafts­eli­te und Ober­schicht. Der 3. März 2024: Er ist historisch!

Wie ist das zu erklä­ren? Es gibt offen­sicht­li­che Grün­de: Tat­säch­lich pla­gen vie­le Senio­rin­nen und Senio­ren Exi­stenz­äng­ste wegen stei­gen­der Mie­ten, Kran­ken­kas­sen­prä­mi­en und Lebens­hal­tungs­ko­sten. Hin­zu kom­men all jene, die in zehn, fünf­zehn Jah­ren in Pen­si­on gehen: Sie stel­len fest, dass die Ren­te viel­fach tie­fer sein wird, als es ihnen ver­spro­chen wor­den war. Und auch die Mit­tel­schicht und vie­le Jun­ge rech­nen und begrei­fen, dass für sie die AHV nach wie vor die gün­stig­ste Alters­vor­sor­ge ist und bleibt. Das sind alles prag­ma­ti­sche Grün­de für ein Ja.

Das Unbe­ha­gen wächst

Doch das allein erklärt das kla­re Votum gegen den geschlos­se­nen Wider­stand aller bür­ger­li­chen Par­tei­en nicht: Es muss einen tie­fe­ren Grund geben. Und den gibt es in der Tat: ein sich immer stär­ker aus­brei­ten­des Unbe­ha­gen in wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung, nicht gerecht und fair behan­delt zu wer­den. Es ist ein dif­fu­ses Gefühl, nicht das zu erhal­ten, was man ver­dient hat. Ein tie­fes Miss­trau­en, zu kurz gekom­men zu sein. Das ist wohl der eigent­li­che Grund für das kla­re Ja zur 13. AHV-Rente.

Das Fata­le dar­an: Das Unbe­ha­gen ist sehr berech­tigt! Es ist die Kon­se­quenz einer seit 30 Jah­ren prak­ti­zier­ten ver­fehl­ten neo­li­be­ra­len Wirtschafts‑, Finanz‑, Steu­er- und Sozi­al­po­li­tik, wel­che die Ungleich­heit zwi­schen oben und unten immer grö­sser hat wer­den las­sen. Wäh­rend eine klei­ne Schicht mit hohen Ein­kom­men und viel Ver­mö­gen immer rei­cher wird, kom­men alle ande­ren – die Mit­tel­klas­se und die tie­fen Ein­kom­men – nicht vom Fleck. Vie­len Nor­mal­ver­die­nen­den bleibt Ende Monat nicht viel Geld übrig, trotz Fleiss, Enga­ge­ment und anstän­di­ger Aus­bil­dung. Und wer noch weni­ger ver­dient, ist immer öfters gezwun­gen, um Sozi­al­hil­fe, Ergän­zungs­lei­stung und Prä­mi­en­ver­bil­li­gung nachzusuchen. 

Poli­tik gegen das Volk

Schuld dar­an ist eine Wirt­schafts­po­li­tik, die immer nur nach dem Wohl der Unter­neh­men und der Rei­chen fragt, nie nach dem Gemein­wohl und dem Wohl der Men­schen; eine Finanz­po­li­tik, die die Lasten mög­lichst auf die schma­len und schwa­chen statt auf die brei­ten und star­ken Schul­tern über­wälzt; eine Steu­er­po­li­tik, die die Top­ver­die­nen­den und Ver­mö­gen­den immer wie­der aufs Neue ent­la­stet und allen ande­ren immer höhe­re Kopf­prä­mi­en auf­bür­det; und eine Sozi­al­po­li­tik, die auf eine demü­ti­gen­de Almo­sen-Wirt­schaft abzielt statt auf Sozi­al­wer­ke, die gerecht und soli­dar­sich von oben nach unten umverteilen.

Das spü­ren die Men­schen täg­lich am eige­nen Leib, auch wenn sie sich der kon­kre­ten Zusam­men­hän­ge viel zu wenig bewusst sind. Das führt zu Fru­stra­ti­on, Wut und Ent­frem­dung. Und genau das hat sich am heu­ti­gen Abstim­mungs­sonn­tag mit dem Ja zur 13. AHV-Ren­te ent­la­den. Ein beträcht­li­cher Teil der Bevöl­ke­rung scheint zu Recht genug davon zu haben, dass der von uns allen gemein­sam erar­bei­te­te Wohl­stand ein­sei­tig immer nur einer klei­nen Schicht zugu­te­kommt, wäh­rend von allen ande­ren immer neue Opfer ver­langt wird. Das erträgt eine Gesell­schaft auf Dau­er nicht!

Es braucht Umverteilung

Das ist denn auch das zen­tra­le Fazit aus der heu­ti­gen Abstim­mung: Die Fra­ge der sozia­len Gerech­tig­keit und der soli­da­ri­schen Umver­tei­lung ist zurück auf der poli­ti­schen Agen­da. Gefor­dert ist, die Früch­te unse­rer star­ken Wirt­schaft gerech­ter auf alle Schich­ten zu ver­tei­len – mit höhe­ren pro­gres­si­ven Steu­ern für die hohen Ein­kom­men und Ver­mö­gen­den sowie für die Unter­neh­men und mit mehr öko­no­mi­scher Sicher­heit und finan­zi­el­ler Ent­la­stung für die brei­te Bevölkerung.

Das ist die Leh­re, wel­che die bür­ger­li­chen Par­tei­en aus ihrem Water­loo zie­hen sollten.

Text und Bild: Wal­ter Langenegger

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