
Die EU ist ein grossÂarÂtiÂges FrieÂdensÂproÂjekt, aber auch eine DereÂguÂlieÂrungsÂmaÂschiÂne. DarÂin liegt die Krux mit der EU: Das, was sie an DemoÂkraÂtie und BürÂgerÂrechÂten reaÂliÂsiert hat, unterÂmiÂniert sie selbst, indem sie mit ihrer neoÂliÂbeÂraÂlen WirtÂschaftsÂpoÂliÂtik die soziaÂle UngleichÂheit befeuÂert und den Boden bereiÂtet für autoÂriÂtäÂre und EU-feindÂliÂche ParÂteiÂen. Wenn sich die SchweiÂzer GewerkÂschafÂten daher derÂzeit gegen ein EU-RahÂmenÂabÂkomÂmen wehÂren, das ein Abbau an LohnÂschutz und SerÂvice public bringt, dann ist das mehr als nur InterÂesÂsensÂverÂtreÂtung: Es ist vor allem ein Kampf gegen den VorÂmarsch der poliÂtiÂschen Rechten.
NovemÂber 2023. Nach zwei verÂheeÂrenÂden WeltÂkrieÂgen herrscht in weiÂten TeiÂlen EuroÂpas seit mehÂreÂren GeneÂraÂtioÂnen weitÂgeÂhend FrieÂden und SicherÂheit. Das ist unzweiÂfelÂhaft das histoÂriÂsche VerÂdienst der EuroÂpäiÂschen UniÂon (EU). Mit ihrer AusÂdehÂnung auf dem KonÂtiÂnent setzÂten sich jene WerÂte und PrinÂziÂpen durch, die VorÂausÂsetÂzung sind für eine moderÂne, freie und erstreÂbensÂwerÂte GesellÂschaft: DemoÂkraÂtie, RechtsÂstaatÂlichÂkeit, Grund‑, Freiheits‑, MenÂschen- und BürÂgerÂrechÂte, KoopeÂraÂtiÂon zwiÂschen den VölÂkern und die ÃœberÂzeuÂgung, dass nie wieÂder Krieg sein darf auf unseÂrem Kontinent.
Eine zenÂtraÂle RolÂle spielÂte dabei von Anfang an die WirtÂschaft. Sie sollÂte mögÂlichst verÂnetzt, länÂderÂüberÂgreiÂfend und interÂdeÂpenÂdent gestalÂtet werÂden. Dies erstens, um jedem krieÂgeÂriÂschen Akt eines MitÂgliedsÂlanÂdes den wirtÂschaftÂliÂchen Boden zu entÂzieÂhen. Und zweiÂtens, um das ökoÂnoÂmiÂsche PotenÂziÂal des KonÂtiÂnents ausÂzuÂschöpÂfen und FrieÂden durch WohlÂstand und ProÂspeÂriÂtät zu sichern.
Das PriÂmat lag bei der PoliÂtik und deren Ziel der VerÂsöhÂnung des KonÂtiÂnents und der VerÂeiÂniÂgung der LänÂder zu einer starÂken demoÂkraÂtiÂschen WerÂteÂgeÂmeinÂschaft, wähÂrend der WirtÂschaft die AufÂgaÂbe zukam, dafür den Weg zu ebnen. Und das tat dieÂse vor allem als wohlÂfahrtsÂoriÂenÂtierÂte, keyneÂsiaÂnisch geprägÂte soziaÂle MarktÂwirtÂschaft mit starÂkem SoziÂalÂstaat und SerÂvice public.
Vom InstruÂment zum Selbstzweck
Dies änderÂte sich allerÂdings nach dem ZusamÂmenÂbruch der SowjetÂuniÂon. Das ScheiÂtern des KomÂmuÂnisÂmus war der StartÂschuss für den NeoÂliÂbeÂraÂlisÂmus in EuroÂpa und stellÂte die bisÂheÂriÂge RolÂlenÂteiÂlung auf den Kopf: Das PriÂmat hatÂte nun die WirtÂschaft, die PoliÂtik verÂkam zu ihrer ErfülÂlungsÂgeÂhilÂfin. Die QuaÂliÂtät der euroÂpäiÂschen EiniÂgung wurÂde eine andeÂre: Nicht mehr die ReaÂliÂsieÂrung der WerÂteÂgeÂmeinÂschaft stand bei der freiÂen ZirÂkuÂlaÂtiÂon von MenÂschen, KapiÂtal, Waren und DienstÂleiÂstunÂgen im VorÂderÂgrund, sonÂdern die Logik des MarkÂtes. Mit dem bekannÂten FolÂgen: Der SerÂvice public in den BereiÂchen EnerÂgie, VerÂkehr, Post und staatÂliÂche InfraÂstrukÂtur wurÂde priÂvaÂtiÂsiert, der ArbeitsÂmarkt libeÂraÂliÂsiert, das FinanzÂweÂsen dereÂguÂliert und der SoziÂalÂstaat heruntergefahren.
DemÂentspreÂchend präÂsenÂtiert sich heuÂte die EU. Ihre WirtÂschaft wächst, allerÂdings nur in den Boom-RegioÂnen MitÂtel- und NordÂeuÂroÂpas und in einiÂgen TiefÂlohn-LänÂdern OstÂeuÂroÂpas, nicht aber im Süden, wo vorÂab die JugendÂarÂbeitsÂloÂsigÂkeit draÂmaÂtisch ist. DieÂses von der neoÂliÂbeÂraÂlen PoliÂtik gewollÂte GefälÂle hat draÂmaÂtiÂsche KonÂseÂquenÂzen: strukÂturÂschwaÂche RegioÂnen werÂden abgeÂhängt, die MigraÂtiÂon in die reiÂchen EU-LänÂdern verÂschärft sich, die dereÂguÂlierÂten ArbeitsÂmärkÂte fühÂren zum AbgleiÂten eines Teils der BevölÂkeÂrung in ungeÂsiÂcherÂte Arbeits- und LebensÂverÂhältÂnisÂse, gleichÂzeiÂtig wird eine OberÂschicht immer reiÂcher. Damit bringt das WirtÂschaftsÂwachsÂtum nicht wie erhofft mehr WohlÂstand für alle, sonÂdern mehr UngleichÂheit und soziaÂle Unrast.
Das wieÂderÂum löst in vieÂlen MitÂgliedsÂlänÂdern bis weit in die MitÂtelÂklasÂse hinÂein Abstiegs- und ZukunftsÂängÂste aus und treibt vieÂle MenÂschen in die Arme natioÂnaÂliÂstiÂscher und antiÂdeÂmoÂkraÂtiÂscher ParÂteiÂen. DieÂse instruÂmenÂtaÂliÂsieÂren die MigraÂtiÂon für eine SünÂdenÂbock-PoliÂtik und dränÂgen damit die demoÂkraÂtiÂschen KräfÂte in die DefenÂsiÂve. Von SpaÂniÂen bis Ungarn, von ItaÂliÂen bis SkanÂdiÂnaÂviÂen: Je mächÂtiÂger die RechÂte wird, desto mehr unterÂgräbt sie die WerÂte der EU. Die neoÂliÂbeÂraÂle WirtÂschaftsÂpoÂliÂtik entÂwickelt sich damit immer mehr zur TotenÂgräÂbeÂrin der euroÂpäiÂschen Einigung.
Und die Schweiz?
DieÂse EntÂwickÂlung in der EU muss man sich vor Augen halÂten, wenn es jetzt in der Schweiz um ein neuÂes RahÂmenÂabÂkomÂmen geht. NatürÂlich machÂte der NeoÂliÂbeÂraÂlisÂmus auch vor unseÂrem Land nicht halt, zumal die ExportÂwirtÂschaft und die staatsÂkriÂtiÂschen bürÂgerÂliÂchen ParÂteiÂen sehr empÂfängÂlich für dieÂse IdeoÂloÂgie sind. Und natürÂlich nahm auch bei uns die UngleichÂheit masÂsiv zu. Fakt ist allerÂdings auch: Der NeoÂliÂbeÂraÂlisÂmus setzÂte sich in der Schweiz nicht in gleiÂchem MasÂse durch wie in der EU. Ein Abbau des SoziÂalÂstaaÂtes fand nur bedingt statt und wesentÂliÂche Teil des SerÂvice public sind nach wie vor weniÂger stark den MarktÂkräfÂten unterÂworÂfen als anderswo.
NeoÂliÂbeÂraÂlisÂmus abgebremst
Dass dies so ist, hat iroÂniÂscherÂweiÂse ausÂgeÂrechÂnet mit der rechtsÂpoÂpuÂliÂstiÂschen SVP zu tun. Zwar ist sie sehr wohl neoÂliÂbeÂral einÂgeÂstellt. Weil sie aber seit jeher einen radiÂkaÂlen AbschotÂtungsÂkurs gegenÂüber der EU verÂfolgt, fiel sie als BündÂnisÂpartÂner der BürÂgerÂliÂchen in der EU-FraÂge ausser Betracht. Damit blieÂben nur die EU-freundÂliÂchen LinÂken und GewerkÂschafÂten als MehrÂheitsÂbeÂschafÂfer. DieÂse wieÂderÂum nutzÂten bei den BilaÂteÂraÂlen die SVP-TotalÂopÂpoÂsiÂtiÂon als Hebel dafür, die SchweiÂzer MarktÂöffÂnunÂgen mit SchutzÂklauÂseln soziÂal abzuÂfeÂdern. Mit dem ResulÂtat, dass der StromÂmarkt nur teilÂliÂbeÂraÂliÂsiert wurÂde, der BahnÂverÂkehr nach wie vor als SerÂvice public funkÂtioÂniert und das für die poliÂtiÂsche HandÂlungsÂfäÂhigÂkeit wichÂtiÂge SubÂvenÂtiÂonsÂweÂsen unanÂgeÂtaÂstet blieb.
GleiÂches gilt für den ArbeitsÂmarkt. DieÂser wurÂde zwar mit der PerÂsoÂnenÂfreiÂzüÂgigÂkeit libeÂraÂliÂsiert, aber dank den flanÂkieÂrenÂden MassÂnahÂmen konnÂte ein LohnÂschutz instalÂliert werÂden, der die BeschäfÂtigÂten in der Schweiz relaÂtiv wirkÂsam vor DumÂping und PreÂkaÂriÂsieÂrung schützt. Das war umso wichÂtiÂger, als dass unseÂre DurchÂschnittsÂlöhÂne dreiÂmal höher sind als in der EU und damit in keiÂnem andeÂren Land EuroÂpas die Gefahr von LohnÂdumÂping so gross ist wie in der Schweiz.
SoziaÂleÂre EU?
Genau darÂum ist es nötig, dass LinÂke und GewerkÂschafÂten in Sachen RahÂmenÂabÂkomÂmen rote LiniÂen zieÂhen. Denn wohl trifft zu: Auch die EU hat im Zuge der InflaÂtiÂon, der EnerÂgieÂkriÂse und der WohÂnungsÂknappÂheit reaÂliÂsiert, dass ihre neoÂliÂbeÂraÂle WirtÂschaftsÂpoÂliÂtik die poliÂtiÂsche RechÂte befeuÂert sowie die GesellÂschafÂten destaÂbiÂliÂsiert und das VerÂtrauÂen in DemoÂkraÂtie und InstiÂtuÂtioÂnen unterÂgräbt. DesÂweÂgen beteuÂert sie heuÂte immer wieÂder, dem soziaÂlen AusÂgleich mehr Gewicht beiÂmesÂsen zu wolÂlen. Doch dieÂsen WorÂten sind bisÂher nur bedingt Taten gefolgt, was sich auch bei den SonÂdieÂrungsÂgeÂspräÂchen zum RahÂmenÂabÂkomÂmen zeigte.
WeiÂter auf Liberalisierungskurs
So setzt die EU-KomÂmisÂsiÂon bei der EntÂsenÂdung von ArbeitÂnehÂmenÂden weiÂterÂhin auf eine LibeÂraÂliÂsieÂrung. Sie stellt zwar eine LohnÂgaÂranÂtie in AusÂsicht, forÂdert von der Schweiz dafür aber zuvor die VerÂkürÂzung der VorÂanmelÂdeÂfrist, die LockeÂrung von KonÂtroll- und SankÂtiÂonsÂmassÂnahÂmen sowie die ÃœberÂnahÂme der EU-SpeÂsenÂreÂgeÂlung. Das bedeuÂteÂte nicht nur eine spürÂbaÂre VerÂminÂdeÂrung des LohnÂschutÂzes, sonÂdern auch den Abschied vom GrundÂsatz «gleiÂcher Lohn für gleiÂche Arbeit am gleiÂchen Ort».
GleiÂches gilt in Sachen SerÂvice public. Hier forÂdert die EU zum einen die vollÂstänÂdiÂge LibeÂraÂliÂsieÂrung des StromÂmarkÂtes, obwohl dies in vieÂlen LänÂdern zu steiÂgenÂden PreiÂsen, weniÂger VerÂsorÂgungsÂsiÂcherÂheit und höheÂre KriÂsenÂanÂfälÂligÂkeit geführt hat. Zum andeÂren verÂlangt sie eine ÖffÂnung des BahnÂverÂkehrs für priÂvaÂte UnterÂnehÂmen, obwohl die ErfahÂrunÂgen in GrossÂbriÂtanÂniÂen, DeutschÂland und ItaÂliÂen zeiÂgen, dass dies zu DumÂping auf den HauptÂstrecken und zum Abbau des öffentÂliÂchen VerÂkehrs in RandÂreÂgioÂnen führt.
AbkomÂmen nicht unterschätzen
Setzt sich die EU damit durch, kommt es in der Schweiz zu mehr LohnÂdruck und quaÂliÂtaÂtiv schlechÂteÂren öffentÂliÂche DienstÂleiÂstunÂgen. DarÂum ist das RahÂmenÂabÂkomÂmen nicht zu unterÂschätÂzen. Es ist arbeitsÂmarkt- und soziÂalÂpoÂliÂtisch bei weiÂtem nicht so harmÂlos, wie uns dies desÂsen BefürÂworÂter weisÂmaÂchen wollen.
BunÂdesÂrat und EU-KomÂmisÂsiÂon tun daher gut darÂan, die GewerkÂschafÂten nicht als StörÂfakÂtor, sonÂdern als wertÂvolÂle PartÂner zu begreiÂfen. Dies nicht nur, weil es ohne sie in der Schweiz kaum MehrÂheiÂten für ein RahÂmenÂabÂkomÂmen gibt. SonÂdern auch, weil die GewerkÂschafÂten das theÂmaÂtiÂsieÂren, was die techÂnoÂkraÂtiÂschen UnterÂhändÂler beiÂder SeiÂten ganz offenÂsichtÂlich nicht fähig sind zu begreiÂfen: dass es ErrunÂgenÂschafÂten wie LohnÂschutz, SoziÂalÂstaat und SerÂvice public sind, die jene VorÂausÂsetÂzunÂgen schafÂfen, damit eine WerÂteÂgeÂmeinÂschaft wie die EU dauÂerÂhaft bestehen kann und VerÂtrauÂen herrscht in DemoÂkraÂtie, RechtsÂstaatÂlichÂkeit und Bürgerrechte.
WalÂter Langenegger
Foto: ChriÂstiÂan Lue auf Unsplash