
April 2023. Plötzlich sind sie zurück, organisieren in vielen EU-Ländern Streiks, geben sich kämpferisch: die Gewerkschaften. Findet ein Wiedererstarken der klassischen Gegenmacht zu Kapital und Wirtschaft statt, angetrieben durch die jetzige Inflation? Oder sind die neuen Arbeitskämpfe mehr noch ein Signal dafür, wie nötig eine soziale Rückbestimmung ist, nachdem Globalisierung und Neoliberalismus die Gesellschaft ausgezehrt haben? Ein Plädoyer für starke Gewerkschaften.
Die Geschichte der Menschheit ist im Kern immer eine Geschichte des Kampfes um Ressourcen und die Verfügungsgewalt über Mittel und Reichtum. Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle Epochen hindurch. Es ist ein Kampf zwischen der Macht der Besitzenden und jenen, die sich in ihrer Not zusammenschliessen und sich der gegebenen Ordnung verweigern. Im alten Rom waren es die Aufstände der Plebejer, im Mittelalter die Bauernrevolten und im heutigen globalisierten Kapitalismus sind es die Streiks der Gewerkschaften. Sie sind es, die seit über 150 Jahren die Rolle der Gegenmacht zum Kapital einnehmen.
Streiks in vielen Ländern
Diese Gegenmacht ist in jüngster Zeit in der Öffentlichkeit wieder stärker präsent als noch vor wenigen Jahren: In Frankreich und Großbritannien protestieren Hunderttausende seit Monaten gegen den Rentenabbau von Präsident Macron bzw. gegen das von der Tory-Regierung kaputtgesparte Gesundheitswesen. In Deutschland, Holland und Norwegen wiederum setzten die Gewerkschaften soeben mit landesweiten Warnstreiks höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor, im Bahnverkehr sowie in der Industrie und im Handel durch. Und auch in der Schweiz machen sich die Gewerkschaften vermehrt bemerkbar: etwa mit dem Frauenstreik und mit ihrem Kampf gegen den Abbau der beruflichen Vorsorge und für höhere AHV-Renten (siehe dazu Zweitbeitrag unten).
Der Wert der Arbeit
Damit tun die Gewerkschaften das, was ihre ureigene Aufgabe im Kapitalismus ist: Sie nehmen ihre Funktion als Schutzverband all jener Menschen wahr, die nur eines haben, um sich ihr Auskommen zu verdienen: ihre Lebenszeit und ihre Arbeitskraft. Die Gewerkschaften schliessen die Nicht-Privilegierten zusammen und machen sie stark. Statt dass die Lohnabhängigen allein kämpfen und sich gegenseitig ausspielen lassen, organisieren sie sich zu einer Verhandlungsmacht, die mitbestimmt, welchen Preis und welchen Wert Arbeitskraft und Arbeitszeit haben müssen. Darum fürchten Arbeitgeber nichts mehr als eine gewerkschaftlich gut organisierte Belegschaft.
Gut organisierte Gewerkschaften dienen freilich nicht nur den Lohnabhängigen selbst, sondern der ganzen Bevölkerung: Gewerkschaften stellen nämlich sicher, dass der von uns allen erarbeitete Wohlstand via Entlöhnung und Arbeitsbedingungen gerecht verteilt wird. Wie gut das funktionieren kann, zeigte sich in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu Beginn der 1990er-Jahre. Gemeinsam mit den damaligen Wohlfahrtsstaaten sorgten die Gewerkschaften dafür, dass die Löhne auf breiter Front mit der Produktivität anstiegen und die Arbeitszeiten sanken. Vieles, was wir heute in der Schweiz kennen, geht auf jene Zeit zurück: Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen und geregelten Arbeitszeiten, Schutz bei Krankheit und Invalidität, Arbeitslosenentschädigung, ein 13. Monatslohn, eine berufliche Altersvorsorge und ein in der Verfassung verbrieftes Streikrecht.
Unternehmerisches Nomadentum
Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Heute sind die Gewerkschaften in der Defensive. Sie kämpfen gegen eine schwindende Mitgliederbasis in den traditionellen Wirtschaftszweigen und bekunden Mühe, in die Dienstleistungssektoren und in die Branchen der digitalisierten Wissensarbeit vorzustossen. Sie haben politisch an Einfluss verloren, werden von der bürgerlichen Politik und den Wirtschaftsverbänden angefeindet und gegängelt und sind mit Medien konfrontiert, welche der Gewerkschaftsarbeit mit Ablehnung begegnen.
Verantwortlich für all dies sind Globalisierung und Neoliberalismus. Mit dem Abbau von Handelsschranken und der Aushöhlung des Arbeitsrechts begannen die Unternehmen damit, zwecks Gewinnmaximierung ihre Fabrikationsanlagen in Tieflohnländern auszulagern. Damit entstand ein wirtschaftliches Nomadentum: Die Unternehmen ziehen von einem Land zum anderen, profitieren von Vergünstigungen und tiefen Preisen und verschwinden wieder, sobald ein Anstieg von Steuern oder Löhnen droht. Anders gesagt: Sie grasen die Weiden ab, ohne sich dann um die Erosion kümmern zu müssen.
Erpressbare Gewerkschaften
Dagegen können sich die Gewerkschaften nur schwer wehren. Sie sind national organisiert und damit erpressbar. Drohen Auslagerungen, sehen sie sich oft genötigt, zur Sicherung von Arbeitsplätzen im eigenen Land Zugeständnisse bei Löhnen und Arbeitszeiten zu machen. Trauriges Beispiel dafür war Gerhard Schröders Agenda 2010 in Deutschland: Damit deregulierte der damalige SPD-Bundeskanzler den Arbeitsmarkt und zwang die Gewerkschaften zum Verzicht auf Lohnerhöhungen.
Die Folge dieser Politik in Deutschland und in vielen anderen EU-Ländern war ein Anstieg von befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeitbeschäftigung, Outsourcing und anderen Formen prekärer Beschäftigung. Das zerstörte das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital. Das Kapital hatte es geschafft, die Gewerkschaften zu brechen – so, wie es sich die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der US-Präsident Ronald Reagan schon in den 1980er-Jahren gewünscht hatten.
Ausgezehrte Gesellschaft
Umso überraschender ist, dass sich die Gewerkschaften heute wieder machtvoll zurückmelden. Daraus zu schliessen, dass sie wiedererstarkt sind, wäre allerdings voreilig. Das sind sie nicht. Zwar schafften sie es, sich eine gewisse politische Vetomacht zu bewahren. Aber die Funktion als ein Motor für eine nachhaltige soziale Entwicklung vermögen sie nur noch bedingt zu erfüllen. Dazu haben sie in den vergangenen Jahrzehnten zu viel an Substanz und Unterstützung verloren.
Dass sie heute gleichwohl wieder Gehör finden, hat daher zunächst vor allem mit der Inflation in Europa zu tun. Diese setzte unvermittelt und massiv ein und traf auf eine sozial und materiell geschwächte und zum Teil verschuldete Gesellschaft. Eine Mehrheit der Bevölkerung in der EU lebt von Einkommen, mit denen sie zwar einigermassen über die Runden kommt. Aber zum Sparen bleibt nicht viel übrig, so dass nur wenige über ein finanzielles Polster verfügen. In dieser Situation schlagen steigende Lebenshaltungskosten unmittelbar aufs Budget durch und bringen viele Menschen in Bedrängnis.
Die Teuerung hat damit auch die tieferen Gründe des Malaise zutage gefördert: nämlich, dass Globalisierung und Neoliberalismus dramatische soziale Flurschäden angerichtet haben. Mit dem Sieg des Kapitals über die Arbeit begann eine unheilvolle Umverteilung von unten nach oben. Nie zuvor war die Welt so reich wie heute. Aber auch nie zuvor war die Welt derart gespalten in ganz wenigen Gewinnern und einer Masse von Verlierern. Die Reichen sind noch viel reicher geworden, die Armen sind ärmer und die einst stabile Mittelklasse erodiert bedenklich. Das hat die Gesellschaften in vielen Ländern ausgezehrt, erschöpft und desillusioniert.
Enorme Ungleichheit
Die enorme Ungleichheit schlägt sich nicht nur in den Statistiken nieder, sondern noch viel mehr im Lebensgefühl vieler Menschen. Der einstige Zukunftsglaube ist dem Pessimismus gewichen. Viele Menschen spüren diffus, zu den Verlierern zu gehören. Während eine kleine Schicht unentwegt auf der Rolltreppe nach oben fährt, können sich alle anderen abstrampeln, wie sie wollen: Sie kommen nicht vom Fleck, trotz Bildung, Leistungswille und Bereitschaft zum Wettbewerb. Der soziale Aufstieg bleibt ihnen versagt; und die Gewissheit macht sich breit, dass es der nächsten Generation erstmals seit langem nicht mehr besser, sondern schlechter gehen wird als ihren Eltern.
Unmut bricht sich Bahn
Die Folge ist Frustration, die sich auch immer öfters Bahn bricht: etwa beim Protest der Gelbwesten in Frankreich oder dem Brexit in Grossbritannien: Hier entlud sich Unmut über die eigene, missliche Lebenssituation, unabhängig von politischer Weltanschauung. Diese Wut wächst umso mehr angesichts dessen, was in jüngster Zeit geschah: dass die Staaten mit aberwitzigen Milliardensummen ganze Branchen und Finanzkonglomerate retten, es aber im Portemonnaie vieler Beschäftigten immer weniger Geld hat.
Zwischen Hoffnung und Gefahr
Für die Gewerkschaften und die sozialen Kräfte in Europa ist diese Entwicklung Chance und Risiko zugleich. Dass Globalisierung und Neoliberalismus an Zustimmung und Deutungshoheit verlieren, eröffnet ihnen die Perspektive, die herrschende Unzufriedenheit in eine Politik der sozialen Umverteilung umzumünzen – in eine Politik also, in der die Wirtschaft den Menschen dient und nicht umgekehrt und in der Fairness und Gemeinwohl vor den Interessen der Aktionäre und des Kapitals stehen.
Gleichzeitig müssen wir aber konstatieren, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik inzwischen in vielen Ländern sehr viel an Gemeinsinn, Solidarität und Vertrauen in die demokratischen Institutionen zerstört und dazu geführt hat, dass viele Menschen ihr Heil in autoritären und faschistoiden Bewegungen suchen. Wie real diese Gefahr ist, zeigt sich etwa in Italien, wo die Post-Faschisten bereits an der Macht sind, oder in Frankreich, wo laut Umfragen der faschistische Front National von den Protesten gegen Macron profitiert und nicht die sozialen, demokratischen Kräfte der Linken.
Am Scheideweg
Damit stehen wir in Europa am Scheideweg. Geht unser Kontinent in die gleiche Richtung wie die USA, wo die Spaltung der Gesellschaft zu besorgniserregenden reaktionären und faschistoiden Auswüchsen geführt hat? Oder schafft es Europa, seiner Bevölkerung wieder soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu garantieren und damit Zuversicht in die Zukunft zu stiften?
In diesem Ringen wäre es wichtig, sich auf starke Arbeitnehmerorganisationen als Garantinnen materieller Gerechtigkeit stützen zu können. Wer es daher ernst meint mit einem demokratischen, sozialen, aufgeklärten und progressiven Europa, tut gut daran, die Gewerkschaften zu unterstützen – im eigenen Interesse und im Interesse einer lebenswerten Gesellschaft.
Autor: Walter Langenegger
Foto oben: Gewerkschaft Unia
Foto unten: Markus Spiske auf Unsplash
Schweizer Trumpf: Die flankierenden Massnahmen
Nicht nur die Gewerkschaften in der EU stehen seit Jahren unter Druck, sondern auch jene in der Schweiz. Wie andernorts auch kämpfen der Schweizerische Gewerkschaftsbund und Travail-Suisse gegen Mitgliederschwund und dem Verlust von politischem Einfluss.
Allerdings erwiesen sich die Schweizer Gewerkschaften robuster als es manche erwartet hätten. Der Grund dafür liegt ironischerweise ausgerechnet darin, dass die Schweiz nicht EU-Mitglied ist, aber in den 2000er-Jahren gleichwohl die Personenfreizügigkeit eingeführt hat. Um sich für die Volksabstimmung genug Unterstützung zu sichern, sah sich die Politik veranlasst, auch die Gewerkschaften ins Boot zu holen. Dafür musste sie aber Konzessionen machen – und zwar in Form der flankierenden Massnahmen.
In der Schweizer Gewerkschaftsgeschichte stellen die flankierenden Massnahmen eine Errungenschaft dar. Denn damit wurde sichergestellt, dass für Schweizer Arbeit auch Schweizer Löhne zu zahlen sind. Diese Regelung war zentral für den Erhalt der Kaufkraft der ganzen Bevölkerung. Denn sie bewahrten das Land vor Lohndumping und vor einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, wie sie in vielen anderen EU-Ländern stattgefunden hat.
Das erklärt auch, weshalb die Gewerkschaften noch vor der nationalkonservativen SVP dem geplanten Rahmenvertrag mit der EU vor zwei Jahren eine klare Absage erteilten. Dieser sah vor, den Lohnschutz aufzuweichen. Dass dies für die Schweizer Gewerkschaften ein No-Go ist, lag auf der Hand. So war es zum Schluss vor allem dem Widerstand der Gewerkschaften zu verdanken, dass der stark neoliberal geprägte EU-Rahmenvertrag vom Bundesrat zurückgewiesen wurde.
Die Schweizer Gewerkschaften bewiesen damit auch, immer noch über eine beträchtliche Vetomacht zu verfügen. Und das ist gut so. Denn dies gewährleistet, dass die Gewerkschaften nur dann einem überarbeiteten Rahmenvertrag zustimmen werden, wenn eine wasserdichte Lohnschutz-Garantie festgeschrieben wird. Und das dient Arbeitnehmenden und dem Gesamtwohl des Landes gleichermassen.
