
Bei der Abstimmung über die AHV21 droht sich laut Umfragen ein allzu bekanntes, trauriges Muster der Schweizer Politik zu wiederholen: Lieber bürdet sich eine Mehrheit der Bevölkerung freiwillig Opfer auf, statt klar Nein zu sagen, endlich soziale Gerechtigkeit einzufordern und die hohen Einkommen und die Vermögenden in die Pflicht zu nehmen. Es ist eine Tragödie!
September 2022. Die Schweiz ist seit jeher ein durch und durch bürgerliches Land. Es sind die bürgerlichen Parteien von GLP bis SVP, die den Kurs vorgeben. Und die Bevölkerung folgt ihnen in aller Regel – und zwar unabhängig davon, was die Fakten, Zahlen und Daten sagen. Was zählt, ist ganz offensichtlich die bürgerliche Parole, nicht das rationale Argument. Das nennt man ideologische Scheuklappen. Besonders deutlich wird dies bei der Abstimmung über die AHV21.
Die Argumente, die gegen die AHV21 sprechen, sind erdrückend. Linke und Gewerkschaften haben der Öffentlichkeit wochenlang Fakten, Zahlen und Daten vorgelegt, die zeigen, welchen Pfusch das bürgerliche dominierte Parlament den Stimmberechtigten am 25. September zur Abstimmung vorlegt. Doch all dies scheint wenig zu nützen und auf taube Ohren zu stossen. Ein paar Beispiele:
Prognosen: In den vergangenen 35 Jahren waren alle negativen Voraussagen zur AHV nachweislich falsch. Die Defizit-Szenarien bewahrheiteten sich nie. Trotzdem vertraut eine Mehrheit der Bevölkerung auf die Prognosen, auf denen die Reform beruht. Die alte Volksweisheit, wonach man aus Erfahrung klug wird, scheint hier offenbar keine Geltung zu haben.
Finanzen: Die AHV schreibt seit Jahren schwarze Zahlen. Das sagen nicht die Linken; das ist auf der Homepage des Bundesamtes für Sozialversicherungen nachzulesen. Es existiert kein Loch in der AHV! Aber eine Mehrheit glaubt felsenfest daran, dass es dieses Loch gibt – fast so, als ob sie sich geradezu danach sehnen würde.
Gleichstellung: In der AHV ist die Gleichstellung zwar fast erreicht, in der beruflichen Vorsorge (BVG) aber überhaupt noch nicht. Und das ist der zentrale Punkt: Zur Altersvorsorge gehören AHV und BVG. Aber das wischt die Mehrheit einfach vom Tisch. Und dies auch jetzt noch, nachdem sich gezeigt hat, dass die versprochene BVG-Revision zugunsten der Frauen auf die lange Bank geschoben wird. Das ist eine Art Realitätsverweigerung.
Mehrwertsteuer: Geradezu irrational ist die Sache mit der Mehrwertsteuer (MWSt). Seit Jahrzehnten senken die bürgerlichen Parteien die sozialen Einkommenssteuern mit der Behauptung, Steuern seien des Teufels. Nun gehen ausgerechnet sie hin und erhöhen mit der MWSt eine Steuer, welche fast ausnahmslos die unteren und mittleren Einkommen trifft. Und was sagt die Mehrheit der Betroffenen laut Umfragen dazu? Sie findet es offenbar okay, für ihren Konsum noch mehr bezahlen zu müssen – und dies bei steigender Inflation. Verstehe das, wer will!
Rentenalter 67: Dass die Bürgerlichen ein Ja zur AHV21 als Auftrag verstehen werden, das Rentenalter weiter zu erhöhen, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wer es als Gegner aber wagt, dies so zu sagen, wird umgehend heftig und aggressiv der Lüge bezichtigt. Das Dementi klingt jeweils wie einst der berüchtigte Satz von DDR-Staatschef Ulbricht, wonach “niemand die Absicht hat, eine Mauer zu errichten”. Aber das macht die Mehrheit offenbar keinesweg stutzig. Warum auch? In einem bürgerlichen Land gilt das bürgerliche Narrativ. Das scheint die Wahrheit zu sein, nichts anderes.
Gegen eigene Interessen
Unter dem Strich ist klar: Ein Ja zur AHV21 bedeutet, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sehenden Auges gegen ihre eigenen finanziellen Interessen stimmt. Wer weniger als 110‘000 Franken im Jahr verdient, nicht vermögend ist und nachrechnet, der wird rasch zum Schluss kommen: Die tägliche finanzielle Belastung steigt, gleichzeitig wird der soziale Schutz für Frauen und Männer vermindert, indem die Frauen mit dem AHV-Rentenalter 65 in der Altersvorsorge noch schlechter gestellt werden. Die einzigen, die davon profitieren, sind die hohen Einkommen und die Vermögenden: Sie können sich mit dieser Reform einmal mehr der Pflicht entziehen, ihren Anteil an den gesellschaftlichen Lasten mittragen zu müssen.
Viele Menschen in der Romandie und im Tessin sowie eine Mehrheit der Frauen scheinen diese Zusammenhänge verstanden zu haben – nicht aber die grosse Mehrheit der Männer in der Deutschschweiz. Sie sind immun gegen alle Einwände und folgen blind den Parolen der bürgerlichen Parteien – aus welchen nicht nachvollziehbaren Gründen auch immer.
Ob es noch gelingt, eine Nein-Mehrheit zu erringen, ist fraglich. Zu hoffen wäre es auf jeden Fall. Denn ein Ja zur AHV21 würde einen Scherbenhaufen hinterlassen: eine geschwächte AHV mit weniger Umverteilungswirkung, eine fatale Weichenstellung in Richtung Abbau in der Altersvorsorge und eine tief gespaltene und in Teilen frustrierte Gesellschaft. Kurzum: eine Tragödie!
Walter Langenegger