Unser Steuersystem privilegiert die Reichen. Schuld daran sind nicht zuletzt falsch konzipierte Progressionskurven bei den Einkommenssteuern. Trotzdem ist dieses Thema in der Politik fast inexistent. Die SP Bern hat nun reagiert und im Kantonsrat verlangt, die Progression für die Mittelklasse zu senken und für die hohen Einkommen zu erhöhen. Ihr Ziel: Mehr Steuergerechtigkeit. Zwar scheiterte sie damit. Doch ändert das nichts daran, dass die SP-Forderung mehr denn je berechtigt ist.
September 2023. In Sachen Steuerpolitik ist unsere Bundesverfassung gerecht. So schreibt sie vor, dass die Besteuerung grundsätzlich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgen muss. Salopp gesagt: Die Reichen haben die breiteren Schultern und sollen daher im Interesse des Gemeinwohls auch einen grösseren Teil der Steuerlast tragen.
Das ist auch der Grund, weshalb den meisten Einkommensteuern (die wichtigste Einnahmequelle von Bund und Kantonen) progressive Steuertarife zugrunde liegen. Progressiv meint hier, dass sich mit steigendem Einkommen auch der Steuersatz erhöht. Die Steuerkurve verläuft demnach im Idealfall zunächst flach und steigt dann immer steiler an, schont damit die niedrigeren und mittleren Einkommen und nimmt die Reichen stärker in die Pflicht.
Verzerrte Steuerkurve
Die Praxis allerdings weicht zum Teil beträchtlich von der Theorie ab, wie die Berner SP-Fraktion feststellen musste. So verläuft die Progressionskurve im Kanton Bern nicht erst flach und dann steil, sondern umgekehrt: Sie steigt am Anfang rasch an, flacht bei den hohen Einkommen ab und führt dazu, dass der Steuersatz für die Mittelschicht und für Multimillionäre praktisch gleich hoch ist.
In Franken und Rappen zahlen die Spitzenverdiener und Vermögenden zwar beträchtliche Summen, sodass immer noch eine gewisse soziale Umverteilung von oben nach unten stattfindet. Aber vom solidarischen Gedanken, wonach die Reichen viel stärker zur Finanzierung des Staates herangezogen werden sollten als alle anderen, ist nicht mehr viel übriggeblieben.
Dies widerspricht nicht nur der Bundesverfassung, sondern bestraft vor allem die Mittelklasse. Sie trägt heute wesentlich mehr zur Finanzierung des Haushalts bei, als ihr eigentlich zugedacht ist, während eine reiche Oberschicht privilegiert wird. Genau das wollte die SP Bern mit ihrer steuerneutralen Korrektur an der Progressionskurve ändern. Steuerneutral deshalb, weil es dabei nicht um Steuerabbau gehen sollte, sondern um eine Besserstellung der Normalverdienerinnen und Normalverdiener. Denn klar ist: Ihnen schaden Steuerreformen ohne Gegenfinanzierung, da sie am stärksten betroffen sind, wenn der Staat sparen muss.
Es zahlen die Falschen
Bern ist allerdings nicht der einzige Kanton mit einer unsozialen Steuerkurve. Im Gegenteil, der Konstruktionsfehler ist mehr oder minder fast überall derselbe, ob in Steuerparadiesen oder Steuerhöllen: die Mittelklasse zahlt, die Oberschicht profitiert. Anders verhält es sich nur bei der direkten Bundessteuer: Ihre Kurve entspricht noch am ehesten der Theorie, weshalb sie als „Reichensteuer“ gilt – was auch der Sinn und Zweck der Sache ist.
Doch die Bundessteuer ist – wie gesagt – die Ausnahme. Dies ist umso stossender, als die Mittelklasse seit 30 Jahren sukzessive steuerpolitisch benachteiligt wird. Mit dem Versprechen, die Steuern für alle zu senken, setzte die bürgerliche Mehrheit in dieser Zeit immer neue Abzüge und Tarifreduktionen durch und senkte damit vor allem die Progression für die Reichen. Die breite Bevölkerung indes spürt kaum etwas davon, sondern ist vielmehr mit immer höheren Kopfsteuern wie Mehrwertsteuern, Krankenkassenprämien und Lenkungsabgaben konfrontiert.
Der neoliberale Umbau des Steuersystems weg von den progressiven Steuern hin zu den unsozialen regressiven Steuern ging damit einseitig zu Lasten der Mittelschicht und führte dazu, dass die Steuerprogression für die Reichen nicht nur viel zu niedrig, sondern real sogar gesunken und teils regressiv ist, wie die folgende Grafik der Universität Basel belegt:
Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
Grafik
Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
Grafik
Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
Grafik
Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
Grafik
Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
Grafik
Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html
Grafik
Dass dem so ist, ist gewollt und Resultat bürgerlicher Mehrheitspolitik. Sie orientiert sich seit über 30 Jahren an einer neoliberalen Wirtschafts‑, Finanz‑, Steuer- und Sozialpolitik und hat mit Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Staatsabbau eine unheilvolle finanzielle Umschichtung von unten nach oben in Gang gesetzt. Heute hebt sich eine kleine, privilegierte Schicht von Superreichen und Vermögenden immer stärker vom Rest der Bevölkerung ab, die insbesondere in den letzten Jahren finanziell immer mehr unter Druck gerät.
Ungerechtes Steuersystem
Augenfällig ist diese Entwicklung besonders bei der Steuerbelastung: Nach Jahrzehnten des Steuerbaus zeigt sich deutlich, wer vom System profitiert: die hohen Einkommen und Vermögenden. Wer eine Million verdient, zahlt heute 20 Prozent weniger Steuern als früher. Für alle anderen mit Durchschnittslöhnen hat sich indes nichts geändert: Sie tragen die gleiche Steuerlast wie noch 1990.
Grafik
Grund dafür ist, dass Bund und Kantone jahrelang gezielt nur die progressiv bzw. sozial ausgestalteten Steuern wie etwa jene der Einkommensteuern mittels Tarifsenkungen oder Steuerabzügen reduzierten. Das bevorteilt die hohen Einkommen; allen anderen indes bringt dies nur minimale Steuerersparnisse. Im Gegenzug erhöhte die Politik auf allen Ebenen die indirekten Steuern wie Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer, jüngst etwa für die AHV21. Diese Steuern wirken wie Kopfsteuern und belasten das Budget der unteren und mittleren Lohnklassen ungleich stärker als jenes der Oberschicht.
Hinzu kommt, dass die Finanzlobby in den Parlamenten auch tiefere Kapitalgewinnsteuern durchsetzen konnte. Seit 2000 sanken sie um einen Fünftel. Die Steuern auf Arbeit dagegen nahmen zu, und zwar um 3,9 Prozent. Damit wurden jene belohnt, die ihr Geld an der Börse verdienen, und jene bestraft, die einer Berufsarbeit nachgehen.
Das Fazit nach 30 Jahren Neoliberalismus in der Schweiz: Oben verteilten die Bürgerlichen Geschenke, unten forderten sie Opfer ein.
Kopfsteuern statt sozialer Prämien
Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch alle verteilungspolitischen Bereiche. Ein Beispiel dafür sind die Krankenkassenprämien. Früher subventionierte sie der Staat aus dem allgemeinen Steuerhaushalt und hielt sie auf diese Weise tief. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz 1994 (KVG) wurden die Kosten aber in grossem Umfang auf die Versicherten überwälzt. Seither haben sich die Prämien mehr als verdoppelt.
Grafik
Die unteren Einkommen erhalten zwar eine Prämienverbilligung, nicht aber die Mittelklasse. Sie leidet daher am stärksten unter den als Kopfsteuern ausgestalteten Prämien. Geschont wird dagegen die Oberschicht: Ihr machen die steigenden Prämien nichts aus, weil sie im Verhältnis zum hohen Einkommen und zur geringen Steuerlast keinen wesentlichen Ausgabenposten darstellen. Oder anders gesagt: Die Oberschicht wurde mit dem KVG und den Steuersenkungen sozusagen aus ihrer solidarischen Pflicht entlassen.
Mieter am kürzeren Hebel
Was Mittelklasse und Geringverdienende ebenfalls stark belastet, sind die Mieten. Trotz sinkender Hypothekarzinsen sind sie in den letzten 16 Jahren um über 22 Prozent gestiegen. Dies nicht, weil zu wenige Wohnungen erstellt worden wären; im Gegenteil, es wird massiv gebaut. Der Grund ist vielmehr, dass die Vermieter die Wohnungsknappheit zur Rendite-Optimierung ausnutzen und entgegen dem Mietrecht faktisch die Marktmiete durchsetzen. Sie erhöhen oft widerrechtlich die Mieten und geben die Zinssenkungen nicht wie vorgeschrieben weiter. Denn sie wissen: Mieterinnen und Mieter wehren sich kaum, weil sie die Wohnung nicht verlieren wollen und Sanktionen befürchten.
Grafik
Dass sich die Immobilienbranche dies leisten kann, hat mit ihrer starken Lobby im Parlament zu tun, einem schwachen Staat, dem die Instrumente zum Vollzug des Mietgesetzes fehlen, und einer Mieterschaft, die nur schlecht organisiert ist, obwohl sie über eine Mehrheit verfügt. Politische Passivität sorgt somit dafür, dass die Mieter am kürzeren Hebel sitzen.
Wer kann, der ersteht daher Wohneigentum, zumal dieses steuerbegünstigt ist und letztlich günstiger kommt als eine Mietwohnung. Aber so sehr sich dies viele Mittelklasse-Familien auch wünschen: Sie werden kaum je in der Lage sein, das nötige Eigenkapital aufzubringen.
Hohe Renditen, tiefe Löhne
Zu alledem kommt hinzu, dass die Löhne hinter der Wirtschaftsleistung hinterherhinken, was ebenfalls auch die Mittelklasse trifft. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft zwar um 32 Prozent zu. Aber die normalen Löhne stiegen nur zwischen 17 und 19 Prozent an. Einzig die Top-Löhne schossen durch die Decke.
Grafik
Auch das ist eine Form ungerechter Umverteilung. Tiefe Löhne bei hoher Produktivität bedeutet, dass die Arbeit ungenügend entlöhnt und in Form von überhöhten Renditen von den Aktionären abgeschöpft wird. Mit Gesamtarbeitsverträgen versuchen die Gewerkschaften zwar, Gegensteuer zu geben. Da sich aber viele Menschen in der Schweiz oft einer höheren sozioökonomischen Schicht zurechnen als dies tatsächlich der Fall ist, sind sie gewerkschaftskritisch. Je tiefer der Organisationsgrad der Arbeitnehmer-Organisationen aber ist, desto schwieriger wird es, politischen und wirtschaftlichen Druck für gerechtere Löhne zu entwickeln.
Sinkende Renten
Was mit dem Auseinandergehen der Lohnschere beginnt, setzt sich bei den Renten fort: Tiefere Löhne bedeuten tiefere Renten, vor allem in der beruflichen Vorsorge (BVG). Obwohl die BVG-Lohnbeiträge seit Jahren kontinuierlich steigen, sind die Renten im Sinkflug. Mit der jüngst, gegen den Willen der Linken beschlossenen BVG-Revision wird sich diese Tendenz weiter verschärfen.
Grafik
Die Finanzwirtschaft begründet die sinkenden BVG-Renten nicht zuletzt mit der Demografie. Das freilich ist ein fatales Argument. Denn das BVG wurde 1985 gerade mit dem Versprechen eingeführt, die Altersvorsorge dank Kapitalmarkt-Finanzierung robuster zu machen gegen die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Dieses Versprechen entpuppt sich heute als ein grosser Irrtum, der uns immer teurer zu stehen kommt.
Einziger Lichtblick bleibt damit die AHV. Schon seit Jahren totgesagt, benötigt sie trotz steigender Rentnerzahlen nach wie vor viel weniger Mittel als das BVG und ist nach wie vor ein wichtiges Instrument gegen die Altersarmut.
Mittelkasse zwischen Hammer und Amboss
All diese Zahlen und Statistiken machen klar, dass sich die Schweiz entgegen unserem Selbstbildnis in einer unheilvollen Spirale bewegt. Zwar steigt das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an und macht das Land immer reicher. Doch dieser Reichtum, täglich erarbeitet von Millionen von Arbeitnehmenden, erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr. Er bleibt in den oberen Schichten hängen, während unten nicht mehr viel ankommt.
Dies trifft die ganze Bevölkerung und insbesondere die Mittelklasse, das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. Je grösser die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen, sind, desto mehr gerät sie zwischen Hammer und Amboss.
Die Folge davon ist: Vor 30 Jahren hatte die Mittelklasse noch die Perspektive, ihren gesellschaftlichen Status und deren ihrer Kinder weiter zu verbessern. Von dieser Vorstellung müssen sie sich immer mehr Menschen verabschieden. Entweder gehören sie zu den wenigen, die auf der Rolltreppe stehen. Oder sie strampelt sich ab, ohne wirklich richtig vorwärtszukommen.
Das macht unser Land immer mehr zu einer armen reichen Schweiz.
Walter Langenegger
(1) Alle Grafiken sind entnommen aus dem Analysepapier „Die Kaufkraft ist unter Druck“ von SP-Nationalrätin Samira Marti. Die Ökonomin hat das Papier im Januar 2003 verfasst und publiziert.
(2) Die Pro-Kopf-Angaben basieren auf der Zahlen des Bundesamtes für Statistik unter dem Link: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/wohlfahrtsmessung/alle-indikatoren/wirtschaft/vermoegen-haushalte.html
Faktisch bedeutet dies laut dem Basler Steuerforscher Kurt Schmidheiny beispielsweise, dass ein Haushalt mit einem Einkommen von drei Millionen heute prozentual weniger Steuern als ein Haushalt mit einer halben Million Einkommen zahlt.
Zentrale Stellschraube
Vor diesem Hintergrund wird klar: Die Progression ist die zentrale Stellschraube, wenn es darum geht, eine steuerpolitische Umkehr mit dem Ziel zu lancieren, eine gerechtere Besteuerung zur Finanzierung der öffentlichen Hand sicherzustellen. Eine solche Umkehr ist längst fällig, nicht zuletzt auch mit Blick auf unsere grösste Herausforderung: die sozialverträgliche Bewältigung der Klimakrise. Wenn es nämlich gelänge, die kantonalen Progressionskurven getreu der Bundesverfassung zu reformieren, stünden uns dafür zusätzliche Milliarden zur Verfügung, ohne dass die breite Bevölkerung mit neuen Lenkungssteuern und Abgaben belastet werden müsste.
Darum wäre es wichtig, dieses in der Öffentlichkeit wenig beachtete, aber zentrale Thema nach dem ersten Anlauf in Bern auch in anderen Kantonen auf die politische Agenda zu setzen. Dies gilt umso mehr, als es kein Zufall ist, wenn dies bisher kaum geschehen ist. Die neoliberalen Steuer-Abbauer haben kein Interesse an einer breiten Debatte über die Progression. Eine solche könnte nämlich zu einer Meinungsänderung in der Bevölkerung führen, ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals herrschte breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass es absolut legitim ist, wenn die Reichen erheblich mehr Steuern zahlen als alle anderen.
Sozial gerecht
Die Argumente, die für eine Reform der Progression mit höheren Spitzensteuersätzen sprechen, sind damals wie heute die gleichen und haben nichts von ihrer Berechtigung eingebüsst. Dabei geht es erstens um die Steuergerechtigkeit. Tatsache ist, dass die hohen Einkommen am meisten vom „System Schweiz“ profitieren. Sie verdanken ihren Erfolg und ihren Reichtum vor allem den hervorragenden Rahmenbedingungen, die wir alle täglich mit unserer Arbeit erschaffen und gewährleisten. Also ist es nur recht und billig, wenn die Reichen dafür einen anständigen Preis und nicht wie heute lediglich einen Dumpingpreis bezahlen.
Wirtschaftlich richtig
Zweitens geht es um die Wirtschaft. Es trifft nicht zu, dass niedrige Steuern für Wohlhabende und Spitzenverdiener positive Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. Das ist ein ideologisches Dogma, das sich zwar politisch durchgesetzt hat, wissenschaftlich aber nie seriös belegt worden ist. Belegt ist einzig, dass es die Reichen noch reicher gemacht hat.
Kein Dogma hingegen ist, dass eine hohe Besteuerung der Reichen das Wirtschaftswachstum fördert. Viele renommierte Wirtschaftswissenschaftler vertreten diese Ansicht, darunter Paul Krugman. Der US-amerikanische Nobelpreisträger zeigte in einem Aufsatz 2019 in der „New York Times“ auf, dass das Wirtschaftswachstum der USA ausgerechnet dann am stärksten war, als die Spitzensteuersätze bei hohen 70 Prozent lagen: nämlich bis in die 1980er Jahre. Später, mit tiefen Spitzensteuersätzen, ging die Wirtschaftsleistung zurück. Siehe Grafik:
Warum das so ist, ist für Krugman klar: 1000 Dollar Steuerersparnis für eine Familie mit einem Jahreseinkommen von 20‘000 Dollar mache einen grossen Unterschied, weil sie sich mehr leisten könne und die Nachfrage ankurble. 1000 Dollar Steuerersparnis für einen Millionär indes mache keinen Unterschied, da sie weder an dessen Konsum noch an dessen Lebensqualität etwas ändere.
Daraus zieht Krugmann den Schluss: Besteuert die Reichen! Denn selbst wenn sie etwas ärmer sind: Sie spüren nichts davon und können sich immer noch alles kaufen.
Autor: Walter Langenegger
Grafik oben: Zahlen zu BE, ZH, NE und SZ stammen von der Steuerverwaltung Bern; ergänzt mit wünschenswerter Progressionskurve
Grafik unten: Tax Policy Center, USA / Bureau of Economic Analysis, BEA / USA